Walzer der Verdammnis: Eugen Ruge erzählt in „Metropol“ von seiner Großmutter und Stalins „Säuberungsaktionen“

Auf den Spuren seiner Großmutter: der Autor Eugen RugeFoto:Asja Caspari

Ein eisiger Wind schlägt dem Leser entgegen. Es ist nicht nur die klirrende Kälte des russischen Winters, die sich durch das Buch „Metropol“ zieht. Es ist vielmehr diese unsägliche Zeit, die alle Poren erstarren lässt, in der Bespitzelung, Verrat, ohnmächtige Angst gnadenlos um sich greifen. Jeder bangt um sein Leben: Bin ich der Nächste, der von Stalins Getreuen abgeholt, nach Sibirien geschickt oder erschossen wird? Eugen Ruges neuer Familienroman erzählt anhand der Geschichte seiner Großeltern von den „Säuberungen“ in der Sowjetunion auf ihrem Höhepunkt von 1936 bis 1938. Rund 1000 Menschen wurden damals täglich exekutiert – so die Schätzungen. Seine Großmutter Charlotte, die schöne Übersetzerin, und ihr zweiter Mann Hans, kamen mit dem Leben davon. Doch sie schwiegen zeitlebens über diese anderthalb Jahre im „Metropol“, dem Luxushotel in Moskau, das nichts anderes als ein Gefängnis war: in dem die Wände Ohren hatten, wo jeder nervös beim Frühstück um sich schaute, wer nun wieder fehlte, weil er nachts abgeholt wurde.

Eugen Ruge machte sich auf die schwierige Suche nach Charlottes Aufenthalt in der Sowjetunion und landete im Gestrick der OMS, dem sagenumwobenen Geheimdienst der Komintern, über den bis heute wenig bekannt ist. Er hatte im Metropol eine komplette Etage gebucht, an die achtzig Räume. Dort sollten die OMS-Mitarbeiter ihre letzten Lebenstage verbringen, bevor sie, einer nach dem anderen, abgeholt wurden. In Zimmer 479 harrten Charlotte und Hans aus. Warum sie überlebten, konnte der Enkel nicht herausfinden. Sein Wissen blieb trotz intensiver Erkundung fragil. Im Russischen Staatsarchiv stieß er zwar auf Charlottes Kaderakte mit 246 Blatt. Aber was sagen Aktennotizen schon über Gefühle, Selbstzweifel und Hoffnungen aus? Trotz der spärlichen Fakten gelang ihm nach seinem Bestseller „Im Zeiten des abnehmenden Lichts“ vor acht Jahren mit diesem Epilog auf seine Familienverwerfungen ein dichtgesponnenes Figurentableau, das hinein nimmt in eine weithin unerforschte Zeit. „Die wahrscheinlichen Details sind erfunden, die unwahrscheinlichen aber sind wahr“, schreibt Ruge im Vorwort. Er nähert sich im Plauderton, oft mit leiser Ironie, den Metropol-Bewohnern an. Vor allem Charlotte malt er mit einer gehörigen Portion Naivität und großen Selbstzweifeln aus, die ihr schon als Kind eingetrichtert wurden.

Der Autor ließ ein verdrängtes Leben wieder auferstehen: prallvoll in seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Wir erleben eine Charlotte, die sich schämt, einer parasitären Klasse zu entstammen, und die unerschütterlich an den Sieg der Arbeiterklasse  glaubt – über Leichenberge hinweg.

„Das ist die Geschichte, die du nicht erzählt hast. Du hast sie mit ins Grab genommen. Du warst sicher, dass sie niemals wieder ans Licht kommt.“

Eugen Ruge akzeptierte dieses Schweigen nicht. Er ließ „das Orchester der Hoffnungslosigkeit“ wieder aufspielen, mit seinem Walzer der Verdammnis, damals im kalten Winter 1937, als der Spasski-Turm das neue Jahr einläutete. Und die Sehnsucht nach dem blühenden Flieder am Teltowkanal, an dem den Charlotte und Hans einst jungverliebt entlangspazierten, ein sehr ferner Klang ist. he

Eugen Ruge: Metropol, Rowohlt Verlag Hamburg, 24 Euro

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