Allerorts sind wir von dem Thema Fremdheit umzingelt. Pegida-Aufmärsche machen uns wütend, hitzige Talkrunden in den Medien müde. Wir unterschreiben Petitionen gegen Fremdenhass, spenden Geld und Kleidung, erwägen eine Patenschaft – und schauen zugleich verstohlen auf die so anders aussehenden Menschen unter Kopftüchern und langen Gewändern, denen wir in Potsdam mehr und mehr begegnen. Ist dieser Fremde auf der anderen Straßenseite „nur“ Flüchtling oder führt er gar Böses im Schilde? Der Glaube an das Gute im Menschen, auch in uns selbst, wird auf die Probe gestellt und verlangt Vertrauen.
Auch in der „Vocalise“, dem traditionellen Vocalfestival des Herbstes, geht es um das Fremde. Allerdings nicht um Syrer oder Afghanen, unsere neuen unbekannten Nachbarn. Nein Ud Joffe, der künstlerische Leiter der Vocalise, möchte vor allem das Fremde in uns selbst hinterfragen: auf eine unaufgeregte, subtile Weise.
Da geht es um unsere ganz persönlichen Dissonanzen, auch im kulturhistorischen Diskurs. Wie halten wir es zum Beispiel mit der Toleranz, wenn eigene Wünsche zurückgeschraubt werden müssen? Wie geht es uns mit unseren Kindern, wenn sie plötzlich pubertieren und uns entrücken? Wie fremd ist uns unsere eigene Kultur, die 1000 Jahre Geschichte schreibt? Es gibt die Angst von außen und die von innen, und die gehen oft Hand in Hand.
Als Ud Joffe gemeinsam mit seinen Kollegen nach einer dramaturgischen Linie für die Vocalise 2015 suchte, lag das Motto fast auf der Straße und wurde durch die aktuelle politische Situation immer zwingender.
Wenn der Kantor am 7. November in der Erlöserkirche das Mozart-Requiem dirigiert, liegen vier Monate Probenarbeit hinter ihm: das wichtigste seiner Arbeit, wie er betont. Das Konzert sei nur das nach außen getragene Glanzlicht am Ende einer langen Auseinandersetzung. „Wir singen musikalische Phrasen, aber machen uns Gedanken um Gott und die Welt. Das finde ich so toll bei der Potsdamer Kantorei, dieser großen Gruppe von 120 Laien, die alles ganz genau erforschen.“ Und da werden eben auch die Texte hinterfragt, die sie singen und die sich heute oft so fremd anhören. Können wir sie deshalb ablegen wie zerschlissene Kleider?
Für Ud Joffe ist es im Mozart-Requiem vor allem das „Dies ireae“, das fremde Töne anschlägt. Da geht es um den Tag der Rache, den Tag der Sünden, „an dem sich das Weltall wird entzünden.“ Es wird sehr angespielt auf das Bild des zornigen Gerichts Gottes, ein Bild, das die Leute hier und heute nicht mehr vertreten. „Ich stelle lieber unsere Nichtigkeit und die Ewigkeit Gottes ins Zentrum.“ Es wird ein leises Abklopfen sein, kein reißerisches. „Man kann das Mozart-Requiem nehmen und zehn verschiedene dramaturgische Linien daraus ableiten, man kann über Trauer, Verlust, über Jesus Christus als Heil der Welt sprechen. Bei mir kam die Frage auf: Was ist unseres und was ist fremd?“
Wer etwas anderes bei dem Konzert für sich heraushört, vielleicht die Erhabenheit und Spiritualität, auch der liegt richtig. Doch Joffe fühlt sich nicht nur der Musik verpflichtet. Er klopft mit den Sängern jedes Wort auf seine Sinnhaftigkeit ab, denn eine bestimmte Betonung zieht auch eine bestimmte Botschaft nach sich.
Das Programm der diesjährigen Vocalise macht indes keine allzu großen Experimente. „Das Mozart-Requiem mag jeder“, weiß Ud Joffe. Auch die Musik Faures und Duruflés, wie sie die Singakademie und der Oratorienchor Potsdam während der Vocalise musizieren, hat große Kraft. Ebenso die Bachkantate „Aus der Tiefe“ mit dem Neuen Kammerchor und Neuen Kammerorchester, die inzwischen Mainstream sei. Und doch kann man sich mit diesen Werken dem Thema Fremdsein nähern: auf eine milde, eine introvertierte Art des Nachdenkens. (he)
Das gesamte Programm der Vocalise 2015, die vom 5. bis 22. November an verschiedenen Aufführungsorten stattfindet, lesen Sie unter www.vocalise.de