Bis sie vollendet werden konnte, musste viel Wasser die Elbe runter- und vor allem viel Geld aus dem Bürgerschaftssäckel abfließen: die Hamburger Elbphilharmonie. Mit ungeahnten Bauverzögerungen und einer Kostenentwicklung, die dem Fass den Boden auszuschlagen drohte, lag der Vergleich zum Berliner Flughafen BER schnell nahe. Doch der große Unterschied ist: die „Elphi“ ist trotz 7-jähriger Verspätung und einer Vervierfachung der Kosten im Gegensatz zum BER nun tatsächlich fertig geworden. Vor etwas mehr als einem Monat wurde mit viel Brimborium die Eröffnung gefeiert. Seit dem scheint man in Hamburg nicht mehr zurückschauen zu wollen – um das neue Wahrzeichen der Stadt ist ein regelrechter Hype entstanden. Viel wurde geschrieben über die einzigartige Architektur, die hochgelobte Akustik, das auf Monate ausverkaufte Qualitätsprogramm und Ticketpreise, die auf dem Schwarzmarkt durch die Decke gehen. Und auch wir nutzten den „zweiten Vertriebsweg“, um uns von der neuen Konzerthalle selber ein Bild zu machen. Konnte sie uns überzeugen?
Passiert man die elektrischen Eingangsschleuse vor dem spektakulären Bau, erinnert der erste Eindruck vom Innenleben der Elbphilharmonie an eine moderne U-Bahn-Station: auf 80 Metern geht es auf einer ungewöhnlich gebogenen Rolltreppe durch eine helle Röhre hoch hinauf in den Bauch der neuen Philharmonie. Nach einer weiteren Rolltreppe gelangt man in das helle, großzügige Foyer mit der „Plaza“, einer Aussichtsplattform mit Rundumblick auf Stadt, Hafen und Hafencity. Hier verspürt man sofort den offenen, imposanten Hauch, den der wellig-gläserne Aufbau auf dem alten Kaispeicher ausstrahlt. Doch ist damit längst nicht Schluss mit dem Aufstieg – erst recht nicht, wenn man Tickets im Block X im obersten, 16. Stockwerk sein eigen nennen darf. Denn man muss wissen: Die Anzahl der einzelnen Sitzbereiche im Großen Saal der Elbphilharmonie füllt in der Tat das komplette Alphabet aus. Also geht es die Stufen mit dem hellen Eichparkett hinauf durch das weitläufige Treppenhaus, in dem sich durch die verwinkelten Bauelemente immer neue, spannende Perspektiven auftun.
Und da sitzen wir nun, mehr als 15 Meter steil über den Bühnenplanken. Beeindruckt vom Anblick des Saals, der allein aufgrund der Masse an Zuschauern eine ordentliche Größe aufweist, andererseits aber durch die asymmetrisch verteilten Blöcke, die vielen Vorsprünge und die organischen Oberflächenformen eine angenehme Verspieltheit versprüht. Die Veranstaltung aus der Reihe „Late Night“ verspricht dazu eine interessante Crossover-Mischung ganz nach unserem Geschmack: Klassische Musik im ersten Teil des Abends, Hamburger Indie-Pop im zweiten Teil. Das Publikum ist dabei rein gefühlsmäßig zu 80 Prozent eher dem ersten Programmpunkt zuzuordnen.
Bevor es mit dem Konzert losgeht, machen die Moderatoren des Abends den Akustiktest. Mal alle ganz laut klatschen, mal alle ganz still sein – und dann: „Die Dame da oben im orangenem Oberteil. Sagen Sie doch bitte mal mit normaler, ruhiger Stimme Ihren Vornamen“. Die meisten der rund 2.200 Zuschauer im natürlich ausverkauften Großen Saal lernen nun Kerstin kennen. Akustiktest eindrücklich bestanden – auch wenn ein Orchestersound natürlich deutlich komplexer ist. Davon können wir uns anschließend überzeugen.
Das NDR-Philharmonieorchester unter der Gastleitung des jungen Stardirigenten Krzysztof Urbański beginnt deutlich voluminöser als Kerstin. Wojciech Kilars „Krzesany“ (Bergsteigen), Sinfonische Dichtung von 1974, ist ein atemberaubender Ritt zwischen Lieblichkeit und Dissonanz, zarten Tönen und dunkler Bedrohung, verhaltener Vorsicht und getriebener Hast. Das Stück von Kilar, der unter anderem bekannt ist für Filmkompositionen für Roman Polanskis „Der Tod und das Mädchen“ und „Der Pianist“ sowie auch für Coppolas „Dracula“, ist ungewöhnlich, energetisch, phantastisch. Das Stück endet so machtvoll-voluminös, als würde Urbański Kraft seines Orchesters die neue Elbphilharmonie wieder einreißen wollen. Selten hat mich ein Stück mehr beeindruckt!
Auf Kilar folgt Strawinskys Ballettstück „Le sacre du printemps“ von 1913 – ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, wie Urbański im Kurzinterview zwischen beiden Aufführungen verrät. Kein Stück wäre je vorher gleichzeitig so aggressiv und dennoch so verletzlich gewesen, ganz neue Tonalitäten hätten eine ganze neue Generation an Komponisten inspiriert. Wie eben auch Wojciech Kilar. Die Akustik des Saals kommt bei Strawinsky, insbesondere in den zarten Passagen, nochmal deutlich mehr zum Tragen, als im ersten Stück. Der Klang ist derart ausdifferenziert, dass man nahezu jeden Ton einem Orchestermitglied zuordnen kann. Und die Akustik verzeiht keine noch so winzigen Spielfehler.
Die Pause zwischen den beiden Hauptprogrammteilen lässt dann allerdings erahnen, warum es auch schon einige kritische Stimmen zur „Elphi“ gibt. Da wären zum Beispiel die deutlich unterdimensionierten Kapazitäten für Damentoiletten oder auch die Bars. Lange Schlangen, lange Gesichter. Aber das sind vielleicht noch die Kinderkrankheiten des neuen Hauses. Einen kritischen Ernstfall müssen wir ebenso hautnah miterleben: eine Dame kollabierte mehrmals auf einem der Aussichtsbalkone direkt neben uns, vermutlich aufgrund der doch sehr stickigen Luft im Gebäude. Zwischen selber helfen und Hilfe-Holen bekommen wir mit, dass die anwesenden Sanitäter anscheinend aufgrund verschiedener Kommunikationspannen im Haus 10 Minuten brauchen, um vor Ort einzutreffen. Bedenklich.
Unserer Laune für den zweiten Teil des Abends tut das aber nur kurz Abbruch. Auf der Bühne steht die noch junge, aber dafür schon sehr erfahrene Hamburger Band Tonbandgerät. Kontrastprogramm zum ersten Teil des Abends, und so bleiben auch einige Stühle nach der Pause leer. Wiederum erstaunt uns, dass sich auch viele Ü70-jährige auf das Kommende zu so später Stunde einlassen („Was ist denn Indie-Pop?“ – „Na ich schätze mal, Musik aus Indien“). Tonbandgerät spielen an diesem Abend zwar eher sachte und größtenteils mit akustischen Instrumenten, dafür aber auch locker beschwingt auf. Schöne deutsche Texte erzählen dazu Alltagsgeschichten. Dass es eine Band soundtechnisch in solch einem Orchestersaal schwierig haben kann, weiß ich aus eigener Erfahrung. Und so merkt man, dass der Tonmann noch den ein oder anderen Regler während der ersten Songs dreht, um schlussendlich aber einen wirklich überragenden Sound zu mischen. Spätestens da hat auch die Band den Saal für sich gewonnen und beweist unter tosendem Applaus, dass Popkonzerte unbedingt auch zum Repertoire der „Elphi“ gehören müssen.
Die Elbphilharmonie hat uns also, abgesehen von den Abstrichen während der Pause, wirklich überzeugt. Architektur, Sound und Programm sind ein kulturelles Highlight, das wir jedem empfehlen können, der das Glück hat, ein Ticket zu ergattern. Enttäuschend dagegen die ausgestorbene Hafencity nach der Aufführung: Will man bei einem Wein oder Cocktail gemeinsam den Abend Revue passieren lassen, sollte man gar nicht erst versuchen, hier fußläufig auf gut Glück eine schöne Bar zu finden. Aber der Kiez ist ja glücklicherweise nicht allzu weit… (ro)