Erschöpft trete ich nach diesem ersten langen Unidram-Abend in die Kühle der Nacht. Die russische Gruppe Akhe hat ganze Arbeit geleistet. Ihre Annäherung an das Tibetische Totenbuch ist nicht nur für die beiden Performer ein enormer Kraftakt. Während sie sich mit Milch und Blut beschmieren, über die Bühne robben und wie besessen in wilder Pinselei die Bühne weißen, sinniert der Kopf der Zuschauer angestrengt über Sinn und Widersinn dieser akribisch-chaotischen Aufführung nach.
Sie gibt sich bedeutungsschwanger: diese assoziative Seelenwanderung und Wiedergeburt und greift dabei tief in die Spielkiste, die jedes Kind aufjuchzen lassen würde. Hier darf gemanscht und herumgesaut werden, was das Zeug hält. Und das alles, um laut Programmheft die sechs Daseinsbereiche, in die man wiedergeboren werden kann, darzustellen. In meisterlicher Synchronizität zelebrieren die beiden kräftigen Männer die Mühen der Arbeit, die nötig ist, um von einer Daseinsform in die andere zu gelangen. Ihr weißes Hemd, das sie wie eine Haut abziehen, ist Symbol des immer neuen Lebens: mal Wischlappen, mal Schürze … Wer indes den Hinweis im Programmheft auf die buddhistische Lehre nicht gelesen hat, wird in Ahnungslosigkeit schwimmen und krampfhaft versuchen, ans Ufer der Erkenntnis zu gelangen. Es muss schon eine Menge Kopfarbeit geleistet werden, um Teil dieses fernen Kosmos‘ zu werden. Die durchaus berührenden Momente verlieren sich weitgehend im zähen Zusammentragen der Bausteine des Lebens, des Sterbens und wieder neuen Lebens.
Das zuvor gezeigte Eröffnungsstück „Blind“ der niederländischen Gruppe Duda Paiva drohte fast überdeckt zu werden von der Wucht des Akhe-Chaos, in der alles außer Rand und Band gerät.
Doch „Blind“ nahm den Zuschauer so zutraulich an die Hand, dass jeder gern zum Partner wurde. Mir hätte diese eine Inszenierung als Abendkost genügt. Sie hatte so viel zu erzählen, so viel Zauber und Poesie, Wut und Nähe, dass sie Raum zum Nachschwingen brauchte. Der brasilianische Puppenspieler und Tänzer Duda Paiva verarbeitete darin seine eigene Krankheit, die ihn als Kind zum Außenseiter werden ließ. Er drohte zu erblinden und hatte mit der Haut Probleme.
Nun kratzt er sich auf der Bühne den deformierten, nach Nähe lechzenden Körper und bittet auch das Publikum, ihn zu berühren. Er wendet sich mit seinen Geschwülsten einer Heilerin (in herrlich eitler Puppengestalt) zu und schließlich verliert er nach und nach diese bedrohlichen Begleiter, an die er sich so gewöhnt hat. Und die nun von ihm weichen. Wie zwei Seelen in seiner Brust umarmt er sie, schlägt auf sie ein. Sie gehörten zu ihm, vergällten ihm das Dasein. Er musste sie erst annehmen, um sie abzuschütteln. Diese Botschaften kommen auf leichten Füßen atemlos daher: im weißen Reifrock, der die Puppen tanzen lässt. Mal auf weiten Schwingen, mal in der Wiege und schließlich im Sarg.
Im Anschluss an diese umjubelte Aufführung konnten die Zuschauer die Schaumstoff-Puppen anfassen – und begreifen. Jeder fand sich wieder in dieser wundersamen Magie eines Reigens, der das Thema Ausgrenzung, Krankheit und Sehnsucht nach Nähe hautnah spüren ließ. (he)
Das internationale Theaterfestival Unidram geht noch bis Samstag und findet in der Schiffbauergasse an verschiedenen Veranstaltungsorten statt. Die weitere Aufführungen finden Sie unter www.unidram.de