Vielleicht liest sie aus dem Kapitel über den Mord. Das würde passen. Schließlich kennen wir Nina Kunzendorf noch bestens als Tatort-Kommissarin Conny Mey. Ihre langen Beine mit wippendem Colt an aufreizenden Hüften machten jede ihrer Ermittlung zum Hingucker. Nach Potsdam kommt sie unbewaffnet. Einzige Verstärkung: Jonathan Franzens „Unschuld“. Aus diesem 800-seitigen Sprachgiganten wird sie Sonnabend lesen.
Was – das ist eigentlich egal. Der Roman schafft es durchweg, für Spannung zu sorgen. Vor allem knistert es, wenn das Ministersöhnchen Andreas des Nachts an der Laube seiner gehasst-geliebten Eltern zum Spaten greift und trotz aller Skrupel das Loch für sein Opfer aushebt. Für einen Stasizuträger, einen Vergewaltiger, einen Rohling, der Andreas‘ erste große Liebe, die 17-jährige Annagret, immer wieder missbraucht. Ihn will, ihn muss er töten – und sich durch diesen Mord zugleich von seiner eigenen widerwärtigen Geschichte befreiten, zu der auch diese Datsche am See gehört. Andreas ist ein Schöngeist, ein Intellektueller, der sich alles ganz genau ausmalt. Er sieht die Gefahr, dass er nach dem Mord im Gefängnis landet. Doch er gräbt weiter, als ginge es um sein Leben. Und er vollbringt sein Werk – bis zum bittersüßen Ende.
Nein, nach dieser abstrusen Tat darauf folgt keine Kommissarin wie Conny Mey, die gegen Andreas ermittelt. Es ist eine Zeit, in der alles aus dem Ruder läuft. Selbst die Stasi ist nicht mehr vor sich selber sicher. Die DDR befindet sich in Auflösung und Geheimnisse schwappen wie dunkle Gespinste nach oben. Auch die der Familien. „Jetzt, da das Eis schmilzt, steigen die Leichen an die Oberfläche“, schreibt Franzen. Wann und warum verliert man seine Unschuld, was gibt eine Generation an die nächste weiter, indem sie schweigt?
Dieser Roman ist komplex, lässt weit gelegte Handlungsstränge ineinandergreifen, und zeigt einmal mehr den sprachmächtigen Jonathan Franzen in seiner Gedankenflut, seinen dicht gewebten atmosphärischen Beschreibungen. Manches wirkt aber auch verstiegen und überzeichnet: Ausgerechnet Andreas, das sexsüchtige mordende Stasi-Söhnchen, dessen zwiespältige Beziehung zu seiner depressiven Mutter ihm das Leben gehörig vergällte, wird zum Gutmensch der Nation, zum Weißwäscher und Whistleblower à la Edward Snowden. „Unschuld“ breitet einen Fächer auf, der den Geist der deutsche Nachkriegszeit ebenso herbeiwedelt wie des heutigen Amerikas: mit all den familiär gelegten Fallstricken, in denen seine Helden „zappeln“ wie verwundete Tiere.
Nina Kunzendorf wird diesen „Helden“ ihre Stimme geben. (he)
Samstag, 17. Oktober, 18 Uhr, Einführung: Sigrid Löffler
Villa Quandt, Große Weinmeisterstr. 46/47, Eintritt 12/erm. 10 Euro
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