Pünktlich zu Weihnachten flog der Westen mitten auf unseren Stubentisch. Auf der fein gestrickten Decke lag das große Paket, auf das wir Kinder wie gebannt starrten. Meine Mutter löste vorsichtig das Papier und legte es behutsam in den Schrank. Erst dann griff sie zur Schere und ließ das Band wegschnipsen. Jeder wollte zuerst seinen Kopf hineinstecken und seine Ansprüche geltend machen. Doch noch war das Geheimnis unter einem raschelnden Seidenpapier mit rankenden Rosen verborgen, die förmlich zu duften begannen.
Doch dieser unbekannte zart-süße Geruch von Luxus und Überfluss kam von dem Stück Seife, das uns mitten aus dem Kleiderberg entgegen strömte. „Lux“ stand dann auch auf der hellblauen Verpackung, die wie eine frische Meeresbrise herauswehte. Die Seife verschwand wie immer in Mutters Hand und danach im Kleiderschrank, in dem die ganze Wäsche in den wonnigen Duft des Unerreichbaren getaucht wurde. Die Seife interessierte uns Kinder weniger, auch nicht das Pfund Kaffee mit dem vollmundigen Namen „Jakobs Krönung“, das unseren „Rondo“ und Mix-Kaffee schon äußerlich blass aussehen ließ. Wir griffen zu den darunterliegenden Klamotten und bestaunten jedes einzelne Teil wie ein kleines Wunder. Was unsere in Westberlin lebende Tante aus den blauen Kleidersäcken ihrer Nachbarn für uns herausgefischt hatte, würde uns auf dem Schulhof und beim Dorfball die neidischsten Blicke garantieren. Diesmal war etwas ganz Besonderes für mich dabei: ein orangefarbiges Minikleid, gestrickt, im Mittelteil mit durchbrochener Häkelei. Ein Hingucker. Ohne Frage. Ich hüpfte vor Freude. Es war natürlich nicht dazu geeignet, mit der Zicke durchs Dorf zum stinkenden Bock zu gehen, wie es mir meine Mutter zumutete. Aber beim nächsten Erntefest wäre es auf den mit Maiskolben und Sonnenblumen geschmückten Umzugswagen sicher nett anzusehen. Ansonsten trug ich auch gern die Sachen meiner Brüder. Für die schwarze Schlaghose, die mein jüngerer Bruder ergattert hatte, schenkte ich ihm meine ganze Briefmarkensammlung: allein für einen Ausgeh-Abend. Von dem Silastikpullover des Klassenfeindes wollte ich allerdings nichts mehr wissen. Mein erster fünfseitiger Liebesbrief von einem Erntehelfer aus Berlin, der mich beim Kartoffelsammeln herausgepickt hatte, gestaltete sich fast zu einer Ode auf diesen Rollkragenpulli: „Ich kann mich genau an alles erinnern: Du hattest Halbschuhe an, schwarze Hosen, einen grünen Rollkragenpullover, aus Silastik, glaube ich. Er war hinten auf der linken Seite ein klein wenig gestopft …“ Für diese Poesie konnte ich mich wenig erwärmen. Ich fühlte mich wie Aschenputtel. Aber was half‘s: Es wurde nun mal abgetragen und zusammengeflickt, was der Zwirn hergab.
Bei meiner immer etwas feinen Großtante, die ich in den Sommerferien manchmal besuchen durfte, war der Westen eingeschlossen. In einer klobigen Anrichte, die wie ein schwarzes Ungeheuer bedrohlich in der Ecke kauerte, war sie versteckt: die aufgetürmte süße Versuchung. Wenn Tante Lotte den Schlüssel nahm, um eine der begehrten Köstlichkeiten herauszunehmen, sah ich die in glänzendem Rot, Schwarz oder leuchtend Orange verpackte fremde Welt mit klangvollen Namen wie Merci, After Eight, Mon Cheri. In unserem Schrank Zuhause lagen höchstens mal eine Schlagersüßtafel, Puffreis oder Kekse aus Wurzen – ohne Kosenamen. Und die hielten sich dort nicht länger als ein Wimpernschlag. Meine Tante war sparsam im Verteilen ihres wohl behüteten Westens. Zögerlich nahm sie eine Tafel Sarotti-Schokolade, zerbrach sie und griff ein einziges Stück. Diese begehrenswerte Winzigkeit legte sie mir auf mein Kopfkissen, dick wie ein Ball. Ein Betthupferl, wie sie verschwörerisch sagte. Ich ließ mich in ihren grauweißen Federberg fallen, versank bis zum Kinn und begab mich mit dem weichen Schmelz auf der Zunge in Morpheus Arme. Einen Zahnteufel gab es damals noch nicht.
Für meine erste Disco in der kleinen Stadt bei Berlin, in die wir zogen, als ich 15 war, holte ich meinen Hosenanzug hervor. Orangefarbige Hosen mit Schlag, eine karierte, hautenge Tunika. Aus der Westmülltüte, aber für mich der letzte Ost-Schrei. Damit hatte ich mich schon oft bewundernd in meinem uckermärkischen Dorf zum Tanz gedreht. Begleitet von meinem Bruder betrat ich mit klopfendem Herz nun den unbekannten Saal. Wir blieben wie angewurzelt stehen. Im dicken Qualm der Zigaretten hotteten langhaarige Gestalten mit zerschlissenen Jeans und Parker zu einer Musik, die mich eher entsetzte als wohlig stimmte. Was für ohrenbetäubende Bässe und Beats. Nichts mit eingängigen Melodien wie „Du bist die Rose, die Rose vom Wörthersee“, nach der wir sonst fast ein bisschen aufmüpfig tanzten und sangen. Ja, durchaus wissend, dass sich der Wörthersee im Westen befand, obwohl dieser zum Untergang verdammte Landstrich der Kapitalisten auf unserer Schullandkarte nur ein weißer Fleck, ein Niemandsland, war.
Man musste vorsichtig sein, um sich nicht zu verraten, dass man mehr wusste als gewünscht. Schnell rutschte einem nicht nur eine dekadente Westmelodie, sondern auch ein entlarvendes Wort heraus, das einen als Westfernsehgucker bloßstellte. Wie im Staatsbürgerkundeunterricht, als ich aus Versehen Arbeitnehmer statt Arbeiterklasse sagte. Der Blick meiner Lehrerin durchbohrte mich wie ein vergifteter Pfeil. Da war allerdings mein Vater schon tot. Er war einer der letzten Mohikaner, der das Kommunistische Manifest verteidigte, obwohl der real existierende Sozialismus seine Ideale an den Marterpfahl gehängt hatte.
Die angereiste Verwandtschaft, die aus dem absterbenden Kapitalismus ab und an zu uns rüberkam, sah weiß Gott nicht aus wie der Verlierer der Geschichte. Wenn sie uns allerdings unsere verwaltete Armut aufs Butterbrot schmierte, legten wir uns ins Zeug, um ihnen ihre Arbeitslosen und Drogenabhängigen entgegenzuhalten. Schnell schwangen wir uns zu 150-prozentige Agitatoren auf, um Staat und Vaterland zu verteidigen. Allerdings kamen wir nicht umhin, einzuräumen, dass es gerade mal wieder keinen Ketchup gab und wir die ganze Nacht vor dem Baumarkt ausharren mussten, um morgens zu den Glücklichen zu gehören, die ein paar Schalbretter abbekamen. Doch beseelt stieg ich mit den schwarzen kniehohen Lackstiefeln meiner Tante, die sie mir mitgebracht hatte, zu meinem Westcousin ins Auto ─ mit dem berüchtigten Stern des imperialistischen Monopols ─ und fuhr zum Tanze vor. Wie eine Königin stiefelte ich die Treppen zum Kulturhaus empor ─ und fiel lang hin. Mit abgeschürften Knien kletterte ich wieder ins Auto und machte mich ganz klein. Der Glanz des Westens bröckelte schnell wieder von mir ab.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands gehören wir nun schon 25 Jahre mit zum Westen. Jetzt packen wir selbst Westpakete und schicken sie gen Osten. Oder wir bringen sie gleich nach nebenan ins Flüchtlingsheim. (he)