Wir sitzen zusammen in einer Gruppe auf der kleinen Zuschauertribüne. Niemand kennt den anderen. Und nicht nur das: Wir können uns nicht einmal voneinander unterscheiden, denn alle sehen komplett identisch aus. In Overalls und den zum Symbol gewordenen Guy-Fawkes-Masken sind wir alle gleich, anonym.
Diese Anonymität, die die Gruppe „AnonymoUS“ beim diesjährigen unidram-Festival im Laufe ihrer Performance per Anweisung auch im Publikum erreicht, ist einerseits befremdlich, andererseits hat sie auch etwas Verlockendes. Das wird dem Besucher in diesem Moment deutlich vor Augen geführt: Man kann tun und lassen, was man will, man kann sprechen und schweigen, wie man will. Keine Tat und kein Wort (ob wahr oder unwahr) wird mit dem eigenen Gesicht, der eigenen Person in Verbindung gebracht. So verschwindet mit einem Mal die Hemmung, in einer Gruppe völlig fremder Menschen persönliche Details und Geheimnisse preiszugeben oder sich ohne die Gedanken über das, „Was denken die Anderen über mich“, durch den Raum zu bewegen. Hinter der Maske findet sich potenziell der Mut, sich wahlweise zum Deppen zu machen oder aber für Dinge einzustehen, in Kämpfen, die man sonst nur aus der Distanz beobachtet. So entsteht eine ganz eigene, spannende – aber zuweilen auch gefährliche – Dynamik.
Inspiriert wird dieses Spiel, dieses Experiment, dessen Teil man wird, von Spike Lees Film „Inside Man“. Dieser handelt vom scheinbar perfekten Verbrechen: Eine große Bank wird zum Ziel eines Raubüberfalls, zahlreiche Geiseln werden genommen. Die Geiseln werden gezwungen, ihre Kleidung durch identische Overalls zu tauschen – die gleichen Overalls, wie sie auch die Bankräuber tragen. Mehrmaliges Umverteilen der so anonymisierten Geiseln in einzelne, voneinander getrennte Gruppen und etliche Psychospiele später weiß keiner mehr (außer der wenigen Eingeweihten), wer Geisel und wer Räuber ist. Einschließlich der Polizei, als sie nach langen Verhandlungen alle (vermeintlichen) Geiseln befreit, ohne dass der Bank ein Dollar gestohlen, jemand körperlich versehrt oder ein Räuber dingfest gemacht wurde. Natürlich steckt aber ein noch größerer Plan dahinter…
Ähnliches, wenn auch natürlich weit weniger Drastisches, widerfährt den Besuchern von „Insight Men“. Man wird genauso durcheinandergewürfelt und man wird Teil einer Menge, in der es irgendwann keinen Unterschied mehr zwischen Schauspieler und Publikum gibt. Ein Publikum, das übrigens zum Teil bestochen wird: Die ersten zehn Besucher erhalten am Schluss 10 Euro ausbezahlt – Statistengage der Kulturförderung. Allerdings unter der Voraussetzung, die Anonymität schlussendlich aufzugeben. Hinter all dem verpackt das Schauspielkollektiv „AnonymoUS“ mehr als nur Gedankenspiele. Zwischen den Zeilen geht es auch um die negativen Auswüchse des Gegenteils von Anonymität: Selbstdarstellung, Selbstvermarktung, Blendung und das „über Leichen gehen“. Phänomene, die auch vor der freien Kulturszene nicht Halt machen, wie man an der einen oder anderen Stelle heraushören kann. „AnonymoUS“ bedient sich dabei nicht umsonst des Namens und der Symbolik des im Internet geborenen, global aktiven Kollektivs Anonymous. Kritik an Gier, ausbordenden Kapitalismus und den Sinn für die revolutionäre Macht der anonymen Masse haben sie gemein, die einen im Kleinen, die anderen im ganz Großen.
Und genauso, wie niemand weiß, wer das Kollektiv ist, das sich weltweit und scheinbar ohne feste Strukturen mit Regierungen, Großkonzernen und kriminellen Organisationen anlegt, wird auch der Besucher von „Insight Man“ nie erfahren, welchen Akteuren er diese kurzweilige Erfahrung zu verdanken hatte. Eine Erfahrung, die eigentlich nur an der Oberfläche dessen kratzt, was sie impliziert. (ro)
„Insight Man“ läuft im Rahmen des unidram-Festivals des T-Werk passend zum Datum („Remember, remember, the 5th of November“) am heutigen 5. November noch zwei mal. Auf das „AnonymoUS“-Experiment kann man sich ab 19 Uhr und ab 21 Uhr im Kesselhaus in der Schiffbauergasse einlassen.
Ansonsten sei euch auch das weitere Programm von unidram ans Herz gelegt. Das Theaterfestival läuft noch bis übermorgen, Samstag, den 7. November. Weitere Informationen und das Programm findet ihr unter: www.unidram.de