Das Mehl klebt noch an der Seite des Rosinenkuchens. Sie ist herausgelöst und von großen braunen Flecken überzogen: Verschüttetes Backöl, das sich über die Schrift ausbreitet und tief eingezogen ist. Wie eine Landkarte der Erinnerung. Die Backanleitung ist kaum noch zu entziffern. Wie oft wurde nach dieser Rezeptur wohl das Pfund Mehl abgemessen, die vier Eier aufgeschlagen, die drei gestrichenen Esslöffel Kakao untergezogen und das Fläschchen Rum-Aroma reingeträufelt? Nein, wir nahmen nicht das Rum-Aroma von Dr. Oetker, wie es geschrieben steht in diesem abgegriffenen Buch, das nur noch kläglich von dem hellblau-weiß-gepunkteten Schutzumschlag zusammengehalten wird. Wir – Kinder des Ostens – mussten uns mit dem Aroma aus dem Konsum begnügen und waren nicht sicher, ob der Kuchen genauso schmeckte, wie es mit Dr. Oetker gewesen wäre.
Beim Ablecken des Teigs von den Rührwerkzeugen standen meine beiden Brüder und ich allerdings in Hab-Acht-Stellung und passten genauestens auf, dass keiner auch nur einen Zungenschlag mehr als der andere bekam. Jeder bot sich an, den Teig aus der Schüssel in die runde braune Metallform zu füllen, um am Ende vielleicht den klebrigen Rest vom Löffel für sich allein zu haben. Backzeit war Genuss- und Kampfzeit. Meine Mutter passte auf, dass die Wogen zwischen den rivalisierenden Geschwistern nicht zu hoch schlugen. Sie war die Wärterin der Gerechtigkeit. Nicht nur, wenn sie das Backbuch zur Hand nahm, das sie als Ossi von ihrer Schwester aus dem Westen geschenkt bekommen hatte und nun wie ihren Augapfel hütete. Dank dieser teils bunt bebilderten Kuchenwelt konnten wir etwas vom Zauber und Duft des Unerreichbaren in unsere Küche mixen. Nicht immer gab es die erforderlichen Zutaten, mal fehlten die Korinthen, mal die Zitrone und immer die Ananas zum vollendeten Tortenglück. Beim Blättern durch die 190 Seiten schrie uns der Mangel mitunter geradezu entgegen. Und doch griffen auch wir Kinder immer wieder zu diesem Bilderbuch mit dem „Apfelkuchen, sehr fein“ oder der Sahnecremetorte, auf der sich mittels geschnittener kandierter Früchte und Dr.-Oetker-Regina-Gelantine ein zauberhaft buntes Blumenwerk über die süße weiße Oberfläche ziehen ließ. Wir übten uns im Nachahmen und brachten es doch nie zur Meisterschaft. Das gab manchmal einen kleinen Stich ins Herz: dieses Unerreichbare, dieses Vorenthalten. Da keimte Neid. Aber der verflog sehr schnell, wenn der noch warme Kuchen auf dem großen Esstisch in der Küche stand und beim Anschneiden aromatrunkene Düfte aufstiegen, die auch der Osten fertig brachte. Und schon ging der Blick auf den Nebenteller: War das Stück darauf etwa größer?
Heute reiht sich das abgegriffene zerfledderte „Dr. Oetker Backbuch, Backen macht Freude‘“ auf meinem Küchenregal ein: undatiert, aber gewiss ein halbes Jahrhundert alt. Ich nehme es selten zur Hand. Backen gehört nicht mehr zu meinen großen Freuden. Da greife ich lieber ins Kühlregal des Supermarktes und kaufe eine Dr.-Oetker-Fertigtorte zum Auftauen. Doch die von meiner vor 40 Jahren verstorbenen Großmutter mit Bleistift in feinstem Sütterlin geschriebene Backanleitung „Bienenstich auf dem Blech“, die ich beim Durchblättern des Generationenbuches wiederentdeckt habe, werde ich nachbacken. Unbedingt. Zum 92. Geburtstag meiner Mutter nehme ich den losen Zettel und rühre genau nach Omas Anleitung den Teig ein. Mit allen Zutaten und mit meinen Enkeln zur Seite, die von den Löffeln den Teig ablecken. (he)