Rund 200 000 Menschen säumten die Straßen und Wege des Parks Sanssouci. Sie wollten dabei sein, als am 19. April 1921 der Sarg mit der im niederländischen Doorn verstorbenen Ex-Kaiserin Auguste Victoria den Zug in der ehemaligen Hofstation Wildpark verließ. Von dort aus ging es vorbei am Neuen Palais zum Antikentempel, das zu ihrer Grablege wurde. Die vielen Potsdamer und Gäste wollten der letzten deutschen Kaiserin, die nur 62 Jahre alt wurde, die letzte Ehre erweisen. Viele kamen aus Neugierde, um an einem großen royalen Ereignis teilzunehmen, andere wollten der Landesmutter noch einmal Dank sagen. Ein erstaunlicher Vorgang, denn die neue Regierung der soeben gegründeten Weimarer Republik, die den Hohenzollernbesitz verstaatlicht hatte, genehmigte zwar die Beisetzung Auguste Victorias, doch sollte sie ursprünglich nur privaten Charakter haben. Mit dieser Menschenansammlung hatte man wohl nicht gerechnet. Wilhelm II. und Kronprinz Wilhelm war die Teilnahme untersagt worden.
Zweieinhalb Jahre zuvor, am 27. November 1918, verließ die völlig gebrochene Kaiserin das Neue Palais und die einstige Residenzstadt Potsdam. Die Novemberrevolution hatte den Kaiser am 9. November zur Abdankung gezwungen. Auguste Victoria wollte es nicht wahrhaben, dass ihre Zeit vorbei ist. Der zunächst in Amerongen und dann in Doorn im Exil lebende Kaiser Wilhelm II. ebenfalls nicht. „Ich bleibe bei Papa bis zuletzt (…) Unsere gegenseitige heiße Liebe und unser Gottvertrauen geht übers Grab“, schrieb sie in einem Brief an ihre Kinder. In dem von der niederländischen Regierung für das deutsche Kaiserpaar letztenendlich zur Verfügung gestellten Schloss Doorn konnten Auguste Victoria und Wilhelm gemeinsam mit ihrer Entourage luxuriös leben. Das Haus wurde mit kostbaren Möbeln und Kunstwerken aus den Schlösssern Potsdams, Berlins und darüber hinaus ausgestattet.
Jörg Kirschstein, Kastellan von Schloss Babelsberg, ausgewiesener Kenner der Kaiserzeit sowie Autor mehrerer Bücher, hat ein Porträt über Deutschlands einstige First Lady geschrieben. Es gab dafür einen Anlass: ihren 100. Todestag. Er jährte sich am 11. April dieses Jahres. Kirschstein holte anhand akribischer Recherchen in Archiven detailreich, fast überbordend Namen und Ereignisse rund um Auguste Victoria aus dem tiefen Fundus der Geschichte ans Tageslicht. Oftmals sind sie aber wohl nur von marginaler Bedeutung. Doch der Autor versteht sie, zusammenzubinden und mit kompositorischem Geschick zu erzählen. Diese Fülle von geschriebenen Informationen wird durch den Reichtum an Fotografien noch erhöht. Viele Bilder von Personen und Ereignissen wurden erstmals in die Öffentlichkeit geschickt. Sie machen das Buch, man könnte eher von einem Text-Foto-Band sprechen, zu einem Kompendium historischer Ansichten.
Man erfährt Interessantes und auch Unbekanntes über Auguste Victoria, die am 22. Oktober 1858 als älteste Tochter des Herzogs Friedrich VIII. zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg geboren wurde. Chronologisch führt Kirschstein durch das Leben der Ex-Kaiserin. Da geht es nach Kiel und ins niederschlesische Primkenau, wo sie ihre Kindheit und Jugend verlebte. Auch ihre Schwester, Prinzessin Feodora, die zeitweise auf dem Krongut Bornstedt als Schriftstellerin und Malerin lebte, wird gewürdigt. Die Liebe zu dem preußischen Kronprinzen Wilhelm, der 1888 nicht nur preußischer König, sondern auch deutscher Kaiser wurde, mündete am 27. Februar 1881 in ihre Heirat. Das Leben mit ihren sieben Kindern, der Hang zu luxuriösen Kleidern und zum kostbaren Schmuck (ohne die langen Perlenketten ließ sie sich in der Öffentlichkeit nicht sehen) oder die andauernden Misslichkeiten mit den Oberhofdamen schildert Kirschstein eindrücklich. Natürlich wird das ernste Anliegen der streng konservativ-protestantischen Monarchin für den Neubau von Kirchen nicht vergessen. In Berlin und anderswo ließ sie gut 60 Gotteshäuser bauen, um die „religiös-sittlichen Notstände“, die immer mehr um sich griffen, zu bekämpfen. Auch der aufstrebenden Sozialdemokratie sollte damit entgegengewirkt werden. Der Volksmund nannte sie „Kirchenjuste“. Auguste Victorias soziales Engagement fand in der Bevölkerung durchaus Anklang. Beispielsweise engagierte sie sich für die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit und in weiteren 140 sozialen und kirchlichen Projekten.
Im Laufe des Ersten Weltkriegs kam der Kaiserin eine wichtige Rolle zu. Als Wilhelm II. im Laufe des Jahres 1918 spürte, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, hatte sie ihn immer wieder ermutigt, oftmals auch kämpferisch, weiterzumachen. Doch das bittere Ende kam. Reichskanzler Max von Baden erklärte am 9. November 1918, dass der Kaiser abgedankt habe, ohne von ihm dazu autorisiert worden zu sein. Auguste Victoria schäumte im Neuen Palais vor Wut. Doch sie musste das Schloss verlassen. Auf dem Krankenbett in Doorn soll sie voller Bitterkeit gesagt haben, dass sie gnadenlos gegen die Aufständischen vorgegangen wäre, auch mit Waffengewalt. (von Gastautor Klaus Büstrin)
Jörg Kirschstein, Auguste Victoria, Porträt einer Kaiserin, be.bra Verlag, 28 Euro.