Tanz braucht Nähe, sehnt sich nach Berührung. Er trägt uns weg aus dem Alltagsgrau, lässt die Seele schweben. Das Herz pulsiert in wallenden Farben. Ja, Tanz vermag es, düstere Gedanken beiseite zu schieben, den Moment zu feiern. Im Miteinander.
Wenn jetzt die fabrik ihr 30. Jubiläum mit einem „Grand Bal“ digital begeht, „berühren“ sich die Freunde des Tanzes im Netz. Eine Tanzparty, die die heimischen Wohnzimmer zu einem großen Saal vereinen soll. „Lieblingsbewegungen aus Potsdam und der Welt werden getanzt, Wegbegleiter*innen der fabrik performen ihre persönlichen Briefe an den Tanz – musikalisch live durch einen DJ begleitet“, heißt es in der Ankündigung zu dieser Online-Party am 17. April. Also: „Schnappt Euch Kind und Kegel, stellt den Sekt kalt, zieht das Tanzdress über und los geht’s – alle sind eingeladen mitzufeiern!“
Noch immer gehe ich auf Distanz zu den zahlreichen kulturellen Angeboten, die sich mehr und mehr häufen. Mich zieht es eher hinaus: zum Solo oder Pas de deux um Blumen und Bäume in Parklandschaften oder auf Waldlichtungen. Aber mit der fabrik verbindet mich eine sehr lange Beziehung, die zurückführt hinter die bröckelnden und zugleich Aufbruch verheißenden Mauern der Gutenbergstraße in der Nachwendezeit. Dort zog es mich hin, als plötzlich unbekannte Begriffe wie Contact Improvisation Neuland verhießen. Und dort lernte ich auch Wolfgang Hoffmann kennen, den Mitbegründer der fabrik, der in dem besetzten Haus einen Kurs gab. Es war bitterkalt in den dunklen Hinterhofräumen, und auch die dicken Socken wärmten kaum. Aber dieses Aufeinanderzugehen, Fallenlassen, Sich-dem-anderen Anvertrauen setzte eine große Energie frei. Das hatte nichts zu tun mit dem bekannten Disco-Fox oder Walzer. Es war eher ein Rock’n’Roll der leisen Töne, der sich seinen Weg bahnte.
„Man fühlt sich zwischen fremden Menschen plötzlich zu Hause“, beschreibt Wolfgang Hoffmann dieses Miteinander in seinem „Brief an der Tanz“, den er anlässlich 30 Jahre fabrik per Zoom Ende Januar verlas (Nachzuhören auf https://fabrikpotsdam.de/event/546. Dort gibt es auch weitere Briefe).
Es ist ein sehr berührender Text, der ahnen lässt, warum aus dem kleinen Jungen, der mit vier Jahren seinen wilden Jagdmusiktanz auf dem Sofa peitscheknallend auslebte, der impulsgebende Tänzer der fabrik wurde. Er und sein engster Mitstreiter Sven Till wirbelten anno 1990 nicht nur ihre eigenen Körper auf dem bald eingebauten Schwingboden in der verwaisten Brauerei in der Gutenbergstraße 105. Sie holten – bald unterstützt von dem „Westberlin-Import“ Sabine Chwalisz – auch die Welt nach Potsdam. Bereits ein halbes Jahr nach der fabrik-Gründung gab es die 1. Internationalen Tanztage, denn man wollte sehen, wie die Welt außerhalb der einstigen Mauern tanzte und zu welchen Bewegungen der Körper neben Ballett und Volkstanz fähig ist. Viele Potsdamer fanden den Weg in das besetzte Hinterhaus: Punks platzierten sich neben Rentnern und keiner nahm daran Anstoß. Das ist bis heute so geblieben. Inzwischen hat sich die fabrik sehr komfortabel in der Schiffbauergasse eingerichtet, setzt statt auf Eigenproduktionen auf internationale Gastspiele, auf Kurse und Workshops und seit 2006 auch auf Residenzen. Das ist natürlich im Moment alles Schnee von gestern. Das Haus ist geschlossen, so wie alle anderen Kulturhäuser rundherum. Auch die fabrik ersann, der Not gehorchend, digitale Formate.
Nun heißt es also: GRAND BAL DIGITAL! Mit körperlicher Nähe, mit leisem zärtlichen Knistern zwischen den Tanzwütigen, wird das natürlich herzlich wenig zu tun haben. Aber ich tanze jetzt auch öfter mal nach alten Platten für mich allein oder sehr gern im Pas de deux. Warum nicht auch quer durch die verschiedenen Wohnzimmerwelten?! he
GRAND BAL DIGITAL! / LIEBER TANZ
30 JAHRE FABRIK POTSDAM | MIT DEUFERT & PLISCHKE
17. APR 2021, ab 19h | ONLINE-PARTY