„Manchmal möchte man schreien“. lit:potsdam eröffnet mit starken Frauenstimmen

Nein, der vom Sturm umgeknickte Baumriese vor der Villa Quandt war kein Menetekel. Die guten Geister kehrten rechtzeitig zurück und ermöglichten die gestrige Eröffnung von lit:potsdam. Mehr noch: Das stark reduzierte Kartenkontingent kann ab Donnerstag corona-gerecht erhöht werden und leerausgegangene Festivalliebhaber kommen nun doch noch auf ihre Kosten. Der Auftakt mit Sharon Dodua Otoo und Mithu Sanyal erwies sich jedenfalls als Glücksstunde unter heiterem Himmel. „Endlich Kultur. Endlich in Präsenz!“, jubelte die Kulturbeigeordnete Noosha Aubel nach 15 Monaten kulturarmer Zeit. Im rückseitigen Villengarten erlebten wir eine sehr lebendige Gesprächsrunde mit maskenlosen offenherzigen Gesichtern, in der das Thema Identität und Rassismus humorvoll und doch auch bitterernst abgeklopft wurde. Schon aus dem eigenen Sprachgebrauch weiß wohl jeder um die Stolpersteine, die sich manchmal fast unmerklich auf den Gedankenweg legen.

Diese beiden nicht-weißen Autorinnen, deren Bücher die Leuchttürme des Frühjahrs seien, wie die sehr kompetente Moderatorin Anne-Dore Krohn sagte, plädieren dafür, gemeinsam zu wachsen an den Fehlern in der Rassismusdebatte. „Aber manchmal ist der Schmerz so groß, dass man schreien möchte“, sagt Sharon Dodua Otoo, alleinerziehende Mutter von vier Söhnen, die immer wieder rassistischen Erlebnissen ausgesetzt sind.

Bei lit:potsdam ging es zuerst einmal um die Gemeinsamkeiten der Schriftstellerinnen, die, Mitte 40, als Romanautorinnen debütieren. „Nicht nur die Einbände ihrer Bücher ähneln sich. Sie bringen frischen Wind in die deutschsprachige Literatur“, so Anne-Dore Krohn.  Dodua Otoo und Mithu Sanyal verarbeiten in ihren Büchern ihre postmigranten Erfahrungen, mitgetragen von ihrer Liebe zum britischen Humor.

Dodua Otoo spannt in ihrem Roman „Adas Raum“ einen weiten Bogen und lässt gleich vier Adas zu uns sprechen. Anfangs ist Ada Zuhause im Ghana des 15. Jahrhunderts, der Blütezeit des Sklavenhandels in Afrika. Wir sind bei der Lesung ganz nah bei dieser Ada, die ihr Kind kurz nach der Geburt tot in den Armen hält.

Dann rutscht Ada in die Rolle der berühmten britischen Mathematikerin Ada Lovelace, die im 19. Jahrhundert das erste Computerprogramm der Geschichte schrieb. Und schließlich gibt es die Ada, die sich in der Nazizeit prostituieren muss und eine junge ‚Schwarze‘ Ada, die sich im heutigen Berlin verzweifelt auf Wohnungssuche begibt. Die beredten Miterzähler sind dabei Gegenstände, wie ein Türklopfer, ein Reisepass, ein Besenstiel und ein KZ-Zimmer.

„Ich wurde in England geboren, meine Kinder in Deutschland und meine Eltern in Ghana, alles fließt für mich ineinander“, sagt Dodua Otoo, die seit 2006 in Berlin lebt, und deren Schreiben immer auch mit ihrem politischen Engagement verbunden ist. Sie möchte die Welt aus anderen Perspektiven zeigen, das Frausein in einer von weißen Männern dominierten Welt.  Alles hat seinen Ursprung, lebt in den nächsten Generationen weiter, so wie ihre Adas durch die Jahrhunderte mäandern. „Ich wollte vor allem eine Geschichte schreiben, in der diskriminierte Menschen nicht weiter diskriminiert werden.“

Auch Mithu Sanyal, die zweite Autorin des Abends, thematisiert in „Identitti“ das Thema Rassismus, nach ihren Sachbüchern „Vulva“ und „Vergewaltigung“ nun in Romanform. Der dreht sich um einen Skandal: Denn die Hauptheldin, Frau Saraswati ist in Wirklichkeit weiß! Dabei war die Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf eben noch die Übergöttin aller Debatten über Identität – und beschrieb sich als Person of Colour. „Das ist ein Roman mit Fußnoten. Jeder kriegt in diesem Buch sein Fett weg.“ Dabei geht Sanyal, die wie ihre Protagonistin in Düsseldorf aufgewachsen ist und indische Wurzeln hat, auch sehr humorvoll vor. „Je ernster ein Thema ist, desto wichtiger ist es, darüber lachen zu können.“ Sie, die als Deutsche oft als „Halbinderin“ bezeichnet wird, weiß, dass überall rassistische Fallen lauern und dass man schnell darauf reduziert wird, woher man kommt.

Beide Frauen, die trotz der Gemeinsamkeiten sehr unterschiedlich im Schreiben, Erzählen und im Gespräch sind, plädieren dafür, künftig bei der Besetzung von Jurys im Literaturbetrieb eine Quote einzuführen. „Unter den 160 Nominierten zum Leipziger Buchpreis war keine einzige Women of Colour dabei“, sagt Mithu Sanyal. Und Sharon Dodua Otoo, die mit ihrer ersten Erzählung in deutscher Sprache „Herr Gröttrup setzt sich hin“ 2016 wohl als erste Schwarze Autorin den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, meint ebenfalls: „Die Quote könnte Mittel zum Zweck sein.“

Das Gespräch geht über den Abend hinaus. Es hat viele Türen aufgestoßen, zu den eigenen Wurzeln, der eigenen Sprache. „An diesen Büchern kann man wachsen“, meint die Moderatorin. Noch bin ich mittendrin in „Adas Raum“.  he

Weitere Informationen unter www.litpotsdam.de

 

 

 

 

„Adas Raum“ ist im S. Fischer Verlag erschienen (22 Euro)

 

 

 

 

 

„Identitti“, erschienen im Hanser Verlag (22 Euro)

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