Sie galt als das Santiago de Compostela des Nordens: die einstige Pilgerstadt Bad Wilsnack. Wir sind mit dem Auto hier. Statt die 135 Kilometer zu wandern, um 135 Tage Sündenerlass zu bekommen, sind wir die B5 hochgetuckelt: vorbei an honiggelben Rapsfeldern und rosablühenden Apfelbäumen. Die Laufschuhe im Koffer.
Nun stehen wir Sonntagvormittag in der Hauptstraße und das einzige Leben rührt sich auf dem Dach. Zwischen Fernsehantennen putzt ein Storch sein Gefieder und hält den Schnabel müde in den blauen Himmel. Um 11 Uhr wird die alles überragende Kirche St. Nikolai aufgeschlossen und wir tauchen unter unseren Kopfhörern ab ins Mittelalter, in eine Zeit, als drei Blutwunderhostien Menschenmassen in Bewegung versetzten und die Prignitz überschwemmten. Von den Britischen Inseln, Flandern, über Skandinavien und das Baltikum, bis nach Polen, Tschechien und Ungarn kamen die Wallfahrer, um das Ereignis von 1383 persönlich in Augenschein zu nehmen. Unversehrte Hostien, die einen Kirchenbrand überlebten, und nun Blutflecken aufwiesen. Danach ereigneten sich weitere Wunder und mehrten den Ruhm des Heiligen Blutes, das wiederum für die Pilger Körper- und Seelenheil versprach. Luther sah die Sache 150 Jahre später etwas anders. Er hätte die von aller Welt überrannte Kirche am liebsten abgebrannt. Und mit ihr den Aberglauben. Statt seiner übernahm das 1522 der evangelische Pfarrer Joachim Ellefeld. Er musste für seine Tat in den Kerker auf die nahe gelegene Plattenburg. Heute lässt sich im restaurierten Burghof bestens speisen: Es gibt Spargel vom Feinsten! Und Pfauen schlagen ihre Räder dazu. Für mich kommen zwischen den alten Mauern Erinnerungen an die 1980er Jahre hoch, als hier Künstler die noch maroden dunklen Räume mit Malerei, Skulpturen und ihrem Kommuneleben füllten. Unvergessen ist mir ein riesiges Bild von Trak Wendisch, das eine Frau beim Onanieren zeigte. Sozialistischer Realismus von der Bettdecke befreit.
Heute kann man auf der Burg heiraten oder sich nebenan beerdigen lassen: unter Ulmen, Eichen oder Kiefern im Bestattungswald Plattenburg. Wir radeln zwischen weiten Feldern zurück, schließlich steht noch Wellnessen auf dem Programm: in der Kristalltherme mit dem Sole-Jod-Salzsee. Hier sind die neuen Pilger vereint. Der Parkplatz ist voll und auch der Bahnhof wird rege genutzt: im Stundentakt kommen die Berliner angereist. Das Gradierwerk ist schon von den Schienen aus zu sehen. Ich kannte bislang nur das Wort Grenadiere, nicht aber Gradiere. Dabei gibt es die Technik seit dem 16. Jahrhundert.
Durch das Herabtröpfeln der Sole verdunstet das Wasser und am Ende erhält man eine stärkere Sole. Die hölzerne Gradierwand ist mit Reisig von Schwarzdorn gestopft, und das Wasser plätschert unaufhörlich von der etwa sieben Meter hohen Wand ins Becken. Man kann sich einen Regencape ausleihen und unterhalb des „Wasserfalls“ Platz nehmen, in der Hoffnung auf Gutes für Atemwege und Haut. In der Therme gibt es dann Sole zum Baden: Man schwimmt oben, ohne sich zu bewegen, und muss nur Acht geben, dass kein Tröpfchen ins Auge kommt. Wie im Toten Meer. Nur preiswerter und ohne langen Anflug. Offensichtlich scheinen sich die Badenden wenig für das Stadtzentrum mit seinen niedrigen gepflegten Häuschen zu interessieren. Auch am Abend hat man die Bürgersteige fast für sich allein.
Ich werde wiederkommen: dann als richtiger Pilger. Auch ohne Hoffnung auf Blutwunder. Vielleicht kann man bis dahin auch wieder die Kirche umrunden. Früher gab es dafür 44 Tage Sündenerlass als Extragabe. Heute versperren Ziegelstapel aus Glindow den Weg. Die kleine Stadt hat Visionen. Über die Sanierung der Kirche hinaus sollen Pilgerzimmer und ein Café entstehen. Und vielleicht wird eines Tages auch wieder das 1974 abgebrannte Schloss aufgebaut, das direkt über einen Schwibbogen von der Kirche aus zu erreichen war. Ein Ausstellungsraum über die Kirchen- und Pilgergeschichte steht jedenfalls auf dem Plan der Gemeinde von St. Nikolai.
Zum Einstimmen auf das Pilgern gibt es von Hartmut Kühne und Anne-Katrin Ziesak das Buch „Wunder, Wallfahrt, Widersacher“. Unter www.kulturreise-ideen.de sind die 135 Kilometer Pilgern vom Alexanderplatz nach Bad Wilsnack beschrieben: in zehn Stationen. Das müsste doch zu schaffen sein. Man kann auch in Hennigsdorf starten. Und hat schon eine Station gespart. he