Waren Sie schon mal in Zittau? Oder haben Sie jemals etwas von dem einzigartigen Schatz dieser Stadt gehört? Wir sind durch Zufall auf diese historische Rarität im letzten Winkel Sachsens gestoßen. Denn eigentlich waren wir zum Wandern unterwegs: zum Oybin, wo einst Caspar David Friedrich seine Staffelei aufstellte und malfreudig der Romantik frönte.
Auf dem Rückweg dieser zu Unrecht von uns so lange übersehenen Landschaft – wo sich versteinerte Monster schaurig-schöne Geschichten zuraunen – machten wir in der Kirche zum Heiligen Kreuz Halt. Dort bedeckt hinter einer riesigen Glasvitrine das Fastentuch von 1472 den Altarraum. Es wird das Große Fastentuch genannt, ein kleines gibt es ebenfalls: gleich um die Ecke, im ehemaligen Franziskanerkloster, und 100 Jahre später entstanden.
Was aber ist ein Fastentuch, das der Reformator Martin Luther als „päpstisches Gaukelwerk“ abtat, uns aber heute das Staunen lehrt?
Es verdeckte zwischen Aschermittwoch und Karsamstag den Altarraum: lehrte den Gläubigen, auch mit den Augen zu fasten. Anfangs wurden diese Leinentücher reich bestickt, später dann auch bemalt. Wie in Zittau. 200 Jahre lang schauten die Katholiken der Stadt auf ihr Großes Fastentuch, auf 90 Bilder, die schachbrettartig die Geschichten des Alten und Neuen Testaments erzählen. Fasten mussten sie damit eigentlich nicht. Denn es gibt auf den 8,20 mal 6,80 Metern eine Fülle von Motiven zu entdecken. So auch den Stifter Jacob Gürtler. Der Gewürz- und Getreidehändler ließ sich am linken unteren Rand vor einem Tisch mit Gewürzsäckchen und einer Waage in der Hand abbilden. In der Mitte dieses Riesengemäldes klafft heute indes ein verwaschenen Nichts: ein mattes abstraktes Farbengespinst. Wo der unbekannte Maler einst zeigte, wie Sodom und Gomorra untergingen, herrscht ein halbes Jahrtausend später eine Wüste. Schuld daran sind die Russen. Und ihre Liebe zum Saunieren. Sie brachten fertig, was nicht einmal dem Großen Brand 1757 gelang. Als die Stadt lichterloh brannte und 80 Prozent der Gebäude von Zittau zerstört wurden, blieben das Kloster und damit auch das Fastentuch wie durch ein Wunder verschont.
Im Februar 1945 versteckten die Zittauer ihr kostbares Exponat vor der näher rückenden Front in einem Kellergewölbe der Burgruine auf dem Berg Oybin. Doch die sowjetischen Soldaten entdeckten es und zerrissen es in vier Stücke. Die perfekte Sicht- und Dampfsperre für ihre im Wald errichtete Sauna. Doch was macht Hitze mit Farben aus Eitempera? Sie lässt sie zerfließen. Nach ihrem Abzug ließen die Rotarmisten das zerfetzte, in Schmutz getretene und in Teilen bis zur Unkenntlichkeit verblasste Tuch einfach liegen. Ein alter Mann fand es. Das Tuch gelangte ins Zittauer Museum zurück. Eine Hecke des Schweigens wuchs über diesen sowjetischen Kulturfrevel. Zu DDR-Zeiten galten die Russen schließlich als die untadeligen Helden der Geschichte. Glückliche Umstände führten 1993 dazu, dass das Tuch in den Werkstätten der Schweizer Abegg-Stiftung restauriert wurde. Unentgeltlich. Die Fachleute erkannten den europäischen Rang des Tuches. Seit über 20 Jahren wird das Große Zittauer Fastentuch nun in der größten Museumsvitrine der Welt (so eingetragen im Guinness-Buch der Rekorde) dauerhaft ausgestellt. Und trotz Mundschutz ist es ein Genuss, mit dieser gemalten Bilderbibel zu „fasten“ – auch außerhalb der Fastenzeit.
Übrigens muss man nicht unbedingt, bis Zittau reisen, um so ein Fastentuch, auch Hungertuch genannt, zu sehen. Im Kloster Zehdenick befindet sich ebenfalls ein Exemplar – allerdings nur die Kopie, das Original wird im Märkischen Museum aufbewahrt. Im Brandenburger Dom kann man sogar ein Hungertuch von 1290 bestaunen: die älteste Stickerei des textilen Domschatzes der Havelstadt. Der nächste Ausflug kommt bestimmt und wird uns lehren:
„Dass alles, wo nicht voll und satt,
Doch gnug und keinen Mangel hat“.
So schrieb es der Dichter Christian Weise in seinen klugen und weitsichtigen Versen „Vom Fastentuch“. he
Mehr über die „Zittauer Fastenbücher“ berichtet der Zittauer Geschichts- und Museumsverein sehr eindrücklich und reich bebildert in seinen „Zittauer Geschichtsblättern“, Ausgabe 38, erhältlich beim Verlag Gunter Oettel für 6 Euro plus Porto