Das Wunder in uns selbst. 150 Kilometer auf dem Jakobsweg: mit wunden Füßen und Nachrichtenfasten

Der Fuß wirft Blasen, die Oberschenkel sind hart wie Beton, der Rücken droht auseinanderzubrechen: Und noch immer ist der Kirchturm nicht in Sicht. Der Regen hat uns auf offenem Feld eingeholt, der Himmel droht mit unheilvollem Donnergrollen. Wenn es jetzt auch noch blitzt, müssen wir uns in die Feldfurche kauern. Doch plötzlich hat der Wettergott ein Einsehen mit uns arme Pilgerseelen und stimmt heitere Töne an. Die dunklen Wolken lösen sich auf, wir schlurfen mit pitschenassen Wanderschuhen, die eigentlich nach Herstellerangaben regenfest sind, weiter durch das Rhinluch. Sechs Tage durchqueren wir auf dem Jakobsweg das Havelland. An der Bushaltestelle Kirche Bötzow setzen wir Montag früh ein, an der Wunderblutkirche Bad Wilsnack verlassen wir nach 158 Kilometern wieder den historischen Pfad. Die innere Stimme jauchzt, fühlt sich jung und stark. Ja, wir haben es geschafft: trotz nicht versiegender Schmerzwellen, Regen allerorten, Unterkünften, die nicht immer halten, was sie telefonisch versprechen. Auch das gehört zu dieser so besonderen Auszeit: sich überwinden, Widrigkeiten trotzen, nicht aufgeben.

Pause. Ein Luftbad für die müden, schmerzenden Füße.

Die Stopps habe ich lange im Voraus akribisch geplant. Schon im April sollte es losgehen: mit Eintritt in mein Rentendasein. Dann kam Corona dazwischen. Im Oktober nun der zweite Anlauf. Es stellt sich etwas komplizierter dar. Kranichzeit! Die Unterkunft in Linum ist ausgebucht: Liebhaber dieser Zugvögel nehmen sie in Beschlag. Wir finden eine andere – sind auch hier zufrieden. Die stattliche Kirche lassen wir links liegen: Kein Schritt mehr weiter. Nur noch essen, dann nichts wie ins Bett. Um 20 Uhr! Wir schlafen wie die Murmeltiere. Allerorten meiden wir zusätzlich schlauchende Besichtigungsprogramme. Und auch Nachrichten. Kein Trump, keine Coronazahlen. Wir konzentrieren uns allein auf die eigenen Gedanken, den eigenen Körper. Das Handy ist dennoch ein wichtiger Gefährte. Nicht nur zum Fotografieren, sondern auch um nicht immer schlüssige Wegemarkierungen zu überprüfen. Googlemaps bewahrt uns vor falschen Fährten.

Wegweiser. Die drei stilisierten Hostien.

Insgesamt müssen wir aber dem Verein „Wunderblut“-Kirche St. Nikolai bescheinigen, dass er sich viel Mühe mit den Aufklebern an den Lichtmasten und den drei aufgemalten roten Punkten an Weiden, Kiefern und Gemeinen Eschen gegeben hat. Wir entwickeln wahre Luchsaugen, um keinen Hinweis entlang unserer Stationen Linum, Protzen, Wusterhausen, Berlitt und Plattenburg zu übersehen. Sie erinnern an das Mittelalter, als drei Blutwunderhostien Menschenmassen in Bewegung versetzten und die Prignitz überschwemmten. Aus aller Welt kamen die Wallfahrer, um das Ereignis von 1383 persönlich in Augenschein zu nehmen. Unversehrte Hostien, die einen Kirchenbrand überlebten, und nun Blutflecken aufwiesen. Luther sah die Sache 150 Jahre später etwas anders. Er hätte die überrannte Kirche am liebsten abgebrannt. Und mit ihr den Aberglauben. Statt seiner übernahm das 1522 der evangelische Pfarrer Joachim Ellefeld. Er musste für seine Tat in den Kerker auf die nahe gelegene Plattenburg.

Auch dort übernachten wir: nicht direkt auf der Burg, die sucht seit Januar einen neuen Pächter. In der Dämmerung erreichen wir das Dorf, mit wunden und dennoch flinken Füßen: durch den Wald, in dem wir das Knacken der Wildschweine zu hören glauben. Die Fischgaststätte erwartet uns dank des Anrufs von unserer Herbergsmutter, Frau Rosenfeld, und serviert uns Zander und Saiblinge, obwohl offiziell längst Küchenschluss ist. Der Koch ist unser Held des Tages! In der Pension Rosenfeld begrüßt uns schließlich ein pikobello sauberes Zimmer, zum Frühstück gibt es leckere selbstgemachte Marmeladen und Holundersaft. Und ein erfrischend anregendes Gespräch über Land und Leute.

Neue Wahrzeichen. Windräder wachsen in die Dörfer hinein.

Viele Begegnungen klingen nach: tröstliche, lebensweise, miteinander verbindende. Wenige Menschen klagen, viele berichteten von Initiativen in ihren Orten, die sie zusammenrücken lassen, wie der Verein Barenthiner Dorfleben mit seiner Klönstube oder „Das bunte Kleeblatt“ in Berlitt, das sich gegen Extremismus und Rassismus aufstellt. Corona scheint kaum jemanden zu erschüttern. Bislang. Der Koch im Anglerheim Wusterhausen, der uns am wärmenden Kaminfeuer eine Soljanka serviert, freut sich, mehr Zeit mit seiner Familie verbringen zu können. Er bekam 9000 Euro Überbrückungsgeld, jetzt hält er sich vor allem mit Außerhaus-Lieferungen über Wasser.

Wir dürfen uns selbst mit Glockengeläut ehren. Rund 1000 Pilger kommen im Jahr hier her. Im Corona-Jahr sind es deutlich weniger. Wir haben unterwegs nur einen getroffen.

Die Inhaber vom Seeidyll nebenan, wo wir schlafen, verzichten auf Restaurantgäste: um sich selbst zu schützen. Sie haben ihren Kredit fürs Hotel glücklicherweise abgezahlt. Dörfliche Gelassenheit hier, leise Aufruhr dort: gegen Windräder, gegen grüne Bauernpolitik. Transparente an Zäunen und Feldrändern geben dem Unmut Ausdruck.

Wir laufen weiter, nehmen sie in uns auf, diese so einzigartige Welt, die im Kleinen das Große spiegelt. Wir freuen uns über den weichen Waldboden, nehmen aber auch den harten Asphalt klaglos unter die Füße. Am Ende sitzen wir in der sonnendurchfluteten Wunderblutkirche, hören in die Stille, dürfen die Glocke ziehen – und sind beseelt. Ganz tief. Das Wunder liegt in uns selbst.  (he)

 

 

Mehr Informationen zum Pilgern auf dem Jakobsweg von Berlin nach Bad Wilsnack mit Wegebeschreibung und Unterkünften unter https://www.wegenachwilsnack.de

Inspiration bietet auch das Buch „Kein Hawaii. Pilgern im Havelland“ von der Potsdamerin Susanne Laser.

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