Es fällt schwer, mit dem Büchermarkt Schritt zu halten. Noch habe ich zu tun, meine bei Lit:Potsdam erstandene Lektüre abzuarbeiten. Und schon frohlocken die sechs Kandidaten für den Deutschen Buchpreis, der am 14. Oktober vergeben wird. Mit Iris Wolff und ihren zart getupften „Lichtungen“ kenne ich wenigstens durch die Lesung im Garten der Villa Quandt auszugsweise eine der Autorinnen der Shortlist. Ihr Roman liegt ganz oben auf meinem noch ungelesenen Bücherstapel. Er führt zurück in die Kindheit und Jugend der Autorin, in die Zeit der Diktatur in Rumänien. Doch im Moment bin ich noch auf den letzten Seiten von Charly Hübners schmalem Büchlein „Wenn du wüsstest, was ich weiß …“. Auch darin geht es um eine Diktatur: um die in der DDR.
Hübner beleuchtet sie indes nicht nur aus der eigenen Perspektive, sondern schaut auf den Autor seines Lebens: auf Uwe Johnson. Für ihn ist es der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts! Da gibt es kein Wanken und Zaudern. Er hat ihn studiert. Gründlich. Hübner stimmt geradezu eine Ode auf den vor 90 Jahren geborenen und vor 40 Jahren verstorbenen Dichter an, den heute kaum noch jemand kennt. Wie ein guter Deutschlehrer analysiert Hübner Johnsons „Jahrestage“, die er schon als Teenager verschlang. Da schrieb jemand über den fernen Sehnsuchtsort New York und verband das mit einer Familiensaga aus Mecklenburg, dort wo auch Hübner, der Neustrelitzer, lebte. „Weltliteratur aus der Heimat also? Das war neu. Das war unglaubwürdig. Das war wirklich cool“, schrieb Hübner über seine erste Begegnung mit Johnson. Da war er 19 und las anderthalb Jahre an dem Mammutwerk. Jetzt, 30 Jahre später, als er die „Tagebücher“ als Hörbuch mit Caren Miosga eingelesen hat, entdeckte er sie wieder: „wie ein neues Erlebnis“. Es war der lange Atem von Johnson, der ihn fesselte, der beruhigend und abweisend zugleich wirkte. Die sperrige Sprache und verwinkelte Erzählweise seien wie ein Sog gewesen.
Aber warum ist er so unbekannt, dieser Johnson, der seine Kindheit in Anklam und Güstrow verbrachte, und der 1959 die DDR verließ? Zuvor wurde er exmatrikuliert, weil er sich weigerte, an einer staatlich organisierten Hetze gegen die Jugendorganisation der evangelischen Kirche teilzunehmen. Dieser Rausschmiss wurde zwar nach Stalins Tod wieder aufgehoben, doch da war das Vertrauen in den Staat aufgebraucht. „Er suchte die Wahrheit und fand den Vorwurf des Verrats.“ Nach seinem Weggang sorgte man dafür, dass ihn keiner im Nachhinein kennenlernte. „Er war ein toter Autor in der DDR“, so Charly Hübner.
Die „Jahrestage“ sind also ein noch zu entdeckendes Jahrhundertwerk: Ein Jahr lang, von August 1967 bis August 1968, erzählt die Hauptfigur Gesine Cresspahl ihrer Tochter aus der Familiengeschichte: von der Weimarer Republik in Mecklenburg, der Nazi-Zeit bis in die ersten DDR-Jahre und von ihrem Leben 1967/1968 in New York. Und wer sich vor den rund 2000 Seiten in den vier Bänden fürchtet, kann sich ja auch vorlesen lassen: eben von Charly Hübner und Caren Miosga. Als Einstimmung empfehle ich Hübners Hommage „Wenn du wüsstest, was ich weiß ..“. Vielleicht bleibt Uwe Johnson ja nicht nur der unübertroffene Autor in Charly Hübners Lebens?! Ich werde mir jedenfalls die „Jahrestage“ anhören (schon wegen Hübners Stimme), auch wenn andere Bücher dafür vorerst liegen bleiben. he/ Foto: Hans Techen/Suhrkamp Verlag
„Wenn du wüsstest, was ich weiß ..“, erschienen im Suhrkamp Verlag, 125 Seiten, 20 Euro
Hörbuch „Jahrestage“, gesprochen von Caren Miosga und Charly Hübner, fast 74 Stunden, Audio Verlag, 60 Euro