Dieser Bartleby erinnert mich an die gemalten Einsamkeits-Gestalten von Edward Hopper: verlorene Seelen mit Blicken, die ins Leere gehen. Wir versuchen, sie zu ergründen und bleiben gebannt und doch ratlos zurück.
„Bartleby, der Schreiber“ ist indes die Titelfigur einer 1853 geschriebenen Erzählung von Herman Melville, die das Wandertheater Ton und Kirschen am Donnerstag in der fabrik Potsdam mit Schwung, Slapstick und großer Konzentriertheit auf die Bühne brachte.
Die munter-witzig und zugleich tiefgründig agierenden Schauspieler brauchen nur wenige Versatzstücke, um die industrialisierte Welt der Massenware wie ein düster getupftes Gemälde entstehen zu lassen. In diesem Fall ist die Welt indes sehr klein und zusammengerückt: in einem Schreibbüro für Rechtsanwälte. Die Angestellten tippen wie wild auf ihren Maschinen, kopieren mechanisch endlose Schriftstücke und werden dabei selbst zu Maschinen. Turkey und Nipper arbeiten bis zum Umfallen und tun ihre Pflicht. Der eine mit Alkohol, der andere mit Wutausbrüchen.
Wie müssen sie sich fühlen, diese Resignierten, diese Widerspruchslosen, die sich mit ihrem Fließbandleben abgefunden haben, als plötzlich wie ein kalter Windzug dieser Sonderling Bartleby in ihre Mitte, nein an ihren Rand tritt?! Bartleby verweigert sich allem. Ja, auch er arbeitet, mehr als alle anderen. Doch jeder abweichenden Aufgabe begegnet er mit freundlichen, aber unumstößlichen Worten: Ich möchte lieber nicht!
Der Besitzer dieser Anwaltskanzlei, der uns diese Geschichte erzählt, bleibt ratlos zurück. Bartleby wird sein Widersacher und zugleich sein Spiegel. Dieser ehrenwerte Chef möchte sein menschliches Antlitz bewahren – trotz Povokation. Er ist nicht der böse Finger, der diesen Nörgler und Verweigerer Bartleby rausschmeißt. Nein, er toleriert ihn. Fast. Bis Bartleby verkündet: Ich habe mich entschlossen, keine Schreibarbeiten mehr zu machen. Und selbst jetzt fühlt sich der Chef in brüderlicher Schwermut mit diesem blassen, unscheinbaren und doch so quälend präsenten Außenseiter verbunden.
Die zupackend-frische Inszenierung lässt viele Assoziationen zu: erinnert nicht nur an die dissonante Großstadtsinfonie Edward Hoppers, sondern auch an die brüchigen Charaktere Kafkas und an die Endzeitstimmung Becketts. Diese 80 Minuten spannungsgeladenes Theater fangen unsere auseinanderfallende Welt ein: diese permanent Leistung abrufende Zeit, in der innerer Rückzug und Depressionen rasant auf dem Vormarsch sind. Ton und Kirschen lassen uns aufgewühlt zurück. (he)
Weitere Aufführungen: 25. und 26. November, jeweils 20 Uhr, sowie am 27. November um 16 Uhr: in der fabrik, Schiffbauergasse.
Weitere Informationen unter www.fabrikpotsdam.de und www.tonundkirschen.de
TICKETS
Vorverkauf: 15 €, erm. 11 €, bis 19 Jahre 5 €
Abendkasse: 17 €, erm. 13 €, bis 19 Jahre 7 €