Enge Schluchten. Das Hans Otto Theater zeigt die Tragödie „Vögel“ und erzählt von Lebenslügen, Schmerz und Schuld

Nach meiner Enttäuschung über das zerfaserte Eröffnungsfest Ende August im Hans Otto Theater zog mich die erste Premiere nun mit voller Wucht hinein. Fehlte beim Warmup quer durchs Haus noch der rote Faden, setzte Bettina Jahnkes Inszenierungsauftakt der neuen Spielzeit auf größte Konzentration. Die konfliktbeladende Tragödie „Vögel“ des libanesischen Autors Wajdi Mouawad sticht mitten hinein in die Dauerwunde des Nahen Ostens, aber auch in die vielen Tragödien weltweit. Und sie erzählt über das ganz persönliche Warum, über Lebenslügen, die sich oft hinter politischen Engstirnigkeiten verbergen.

Die Zuschauer sitzen am Freitag zur Premiere in lockerer Bestuhlung vor einer massiven grau-changierenden Wand. Der rote strahlenförmige Fleck in der Mitte dieses Bühnenmonstrums lässt kurz an eine aufgehende Sonne denken, aber sofort auch an Stacheldraht, an Flüchtlinge, die sich darin verfangen, an Blut, das immer wieder folgenlos verspritzt.

Die Wände drehen sich. Zwei junge Menschen begegnen sich in einer Bibliothek: „Die makellose Harmonie des Zufalls“, sagt Eitan, der Kopfmensch, und verliert sich in einem langen Monolog über die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Der Genetikstudent redet die junge schöne Frau förmlich an die Wand. Aber auch in sein Herz. Der Skeptiker fängt Feuer, so wie auch Wahida, die sich aus ihrer Welt der Bücher in die Liebe stürzt. Beide werden ein Paar: mitten in New York, weitab von Eitans jüdischer Familie und Wahidas arabischen Wurzeln.

Wieder verschieben sich die Mauern, bilden enge Schluchten. Die Familie von Eitan reist an, erfährt von den Heiratsabsichten ihres Sohnes: mit einer Araberin. Alle eingeschriebenen Erfahrungen der geführten und ungeführten Kriege prasseln auf den Sohn nieder. Möchte er einen Vatermord begehen? Darf man jemanden lieben, deren Volk so viel Unheil brachte? Gibt es für die Liebenden ein Leben zwischen diesen verfeindeten Welten?

Der Autor, der als Kind selbst einen Bürgerkrieg erlebte, bevor die Familie flüchtete, entwirft ein überbordendes Tableau an Fragen, zeigt Verstrickungen, die jedem Einzelnen dieses achtköpfigen Figurenensembles die Luft nimmt. Als Eitan mit Wahida nach Israel reist, um nach einer DNA-Probe seine wahre Herkunft zu erkunden, wird er durch ein Attentat schwer verletzt. Eitan überlebt, doch es explodieren jahrzehntelang verborgene Geheimnisse.  Nichts war, wie es schien. Die Familienbande hängt nur noch an losen Fäden. Der verwundete Eitan steht in einem schmalen Spalt zwischen den Mauern. Der blutige Fleck im intensiv mitspielenden Bühnenbild von Juan León scheint auf ihn herabzufallen.

Paul Wilms spielt seinen Eitan als jugendlichen Hitzkopf, der weiß, was er will.  Er redet sich in Rage, hält aber auch betroffen inne, als seine Welt ins Wanken gerät. Alina Wolff ist als Wahida recht kantig und burschikos. Die Rückbesinnung auf ihre arabische Zugehörigkeit überrascht. Besonders beeindruckt Rita Feldmeier als Leah, Eitans Großmutter. Ihr geduckter  verkrampfter Körper vibriert, als sie sagt: Das Messer muss aus der Wunde rausgezogen werden. Dieser Seelenschmerz berührt. Da werden Gefühle nicht nur behauptet. Das sind besondere Momente. Es fällt indes schwer zu glauben, dass diese Leah einst ihren Mann ziehen ließ: mit dem Kind, das sie 15 Jahre lang gemeinsam großgezogen haben.

Auch Kristin Muthwill als Eitans Mutter schafft es, in Atem zu halten, als sie sich erinnert, wie sie erst als Jugendliche erfährt, dass sie Jüdin ist. Ganz nebenbei, während einer Nachrichtensendung im DDR-Fernsehen, die über einen Terroranschlag berichtet.

Die stringente Inszenierung schenkt dem Besucher nichts. Lange Monologe, wenig Aktion. Es geht ums Wort. Um Worte, die verletzen, verschweigen, aufbegehren, suchen. Die die Liebe im Mund führen. In dieser Tragödie hat die Liebe keine Chance. Umso mehr nährt sie die Hoffnung auf Worte, die verbinden statt spalten. Im Hier und Jetzt.  (he)

Die kommenden Vorstellungen sind bereits ausverkauft, für den 25. September sowie für den 15. und 16. Oktober gibt es noch Restkarten. Weitere Infos unter www.hansottotheater.de

 

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