Mein Lesesommer ist weiblich und kommt auf weiten Schwingen daher. Meist erzählt er von einem frühen Schmerz, der im Laufe des Lebens mühsam abgetragen wird. Da gibt es eine Mutter, die ungewollt ihr Kind verlassen muss, eine versuchte Vergewaltigung, viel Einsamkeit und immer wieder die große Sehnsucht nach der erfüllten Liebe. Nein, es sind keine Schmonzetten mit überschäumenden Herz-Schmerz-Wallungen. Frauen schreiben über Frauen, die sich durchboxen müssen: gegen Voreingenommenheit, männliche Dominanz, eigene Versagensängste. Die Bücher kamen durch Empfehlung, Weiterreichung oder als Geschenk auf mich zu. Und dass sie allesamt von Frauenhand geschrieben sind, wollte der Zufall.
Als erstes betrat ich „Adas Raum“ – und verirrte mich immer wieder. Sharon Dodura, die Bachmann-Preisträgerin, versetzt Wände und Perspektiven und lässt sie zu Labyrinthen werden. Ihre berührende Geschichte erstreckt sich über Jahrhunderte und mündet im heutigen Berlin, wo man als farbige Frau mit „falschem“ Pass keine Chance auf Wohnraum hat.
„Kaleidoskop des Schweigens“
Auf Ada folgten die Studentin Lina und ihre 90-jährige Großmutter Lotte. Sie sind die Hauptpersonen in dem Buch „Kaleidoskop des Schweigens“. Dieser Roman besticht durch die Besonderheit, dass die Autorin Ursula Sinemus ihn nicht mehr selbst beenden konnte. Kurz vor ihrem Tod bat sie die Journalistin und Autorin Hanne Landbeck, dass sie das Buch beenden möge. In ihrer letzten Mail von April 2019 schrieb Ursula Sinemus: „Du hast freie Hand, und ich möchte unbedingt, dass du als Mit-Autorin erscheinst.“ Hanne Landbeck erfüllte ihr diesen letzten Willen. Die Frauen kannten sich seit langem. Hanne Landbeck ist Schreibcoach und Gründerin vom „schreibwerk“ Berlin, das auch in Potsdam Seminare gibt. Am liebsten aber unterrichtet Hanne Landbeck in Chania auf Kreta, wo sie viel Zeit verbringt: wegen der Liebe, wegen des Meeres, wegen des Lebens, wie sie sagt. Ihre Methode, den kreativen Geist in Schwung zu versetzen, durfte ich bereits selbst bei einem Workshop erleben. Leider nur in Berlin.
Es geht in diesem vorrangig auf Emails setzenden Buch um vier Frauen in vier Generationen – vor dem Hintergrund eines Mordes mit Forke im Schweinestall und dem Terror der RAF. Auch Potsdam wird ein Schauplatz zugewiesen. Dieser Passus ist sicher eine Zutat der Potsdam-Kennerin Hanne Landbeck. Ansonsten ist der spannungsreiche Roman eine gelungene Verschmelzung beider Handschriften, trotz einiger Wiederholungen.
„Der Gesang der Flusskrebse“
Bereits in 11. Auflage ist Delia Owens Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ erschienen. Er entführt in das Marschland von North Carolina und malt in feinsten Farbnuancen die Symbiose von Mensch und Natur. Das kleine Mädchen Kyra wird dort allein gelassen von ihrer Familie. Sie ist sechs, als die Mutter die Fliegengittertür zuknallt und die Hütte verlässt. Ohne sich noch einmal umzudrehen. Und auch der trinkende, schlagende Vater kehrt irgendwann nicht mehr von seinen Sauftouren zurück. Kyra kämpft gegen die Einsamkeit und Ausgrenzung, gegen Hunger und immer neuen Enttäuschungen – und berührt dabei das Herz des Lesers zutiefst.
„Über Menschen“
Vom Zauber der Marsch habe ich mich ins staubtrockene Brandenburg katapultiert und Juli Zehs „Über Menschen“ angefangen zu lesen. Nun bin ich mittendrin in der vermaledeiten Welt von Corona, im Scheitern der Liebe von Dora und dem angstbesessenen Weltretter Robert, im Auseinanderdriften von Links-, Rechts-, Quer-, Stur- und noch Andersdenkenden. Ihr Dorf ist mein Dorf.
Das nächste Leseabenteuer lauert derweil schon am Schreibtischrand und wird mich wieder aus der Kaltfront-Maskenzeit wegbeamen: hinein in die 20er Jahre, zu den Familiengeheimnissen aus Alena Schröders „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“. Denis Scheck jedenfalls verspricht: „Hoppla. Alena Schröder ist eine echte Entdeckung.“ Und die „Brigitte“ meint sogar: „Elektrisierend wie Babylon Berlin“. Ich freue mich auf den Spätsommer mit ihr. he