NEULICH fuhr ich am späten Nachmittag mit der S-Bahn von Berlin nach Potsdam. Ich war müde und froh, einen Sitzplatz gefunden zu haben. Doch ein kleiner Junge im Kinderwagen und im Dauerschreimodus ließ mich kurz überlegen, ob ich das Abteil wechsele. Der Mutter schien das Weinen weniger auszumachen. Sie telefonierte und schaute über alle fragenden Blicke der Mitreisenden stoisch hinweg. Schließlich erhob sich ein junger Mann, Mitte 30, von seinem Platz, ging zu dem Kind und sprach es freundlich an. Der Junge machte große Augen und vergaß vor Schreck sein Weinen. Keine zwei Minuten später war er eingeschlafen. Die Mutter hörte auf zu telefonieren. Und lächelte. Ob sie überhaupt jemand in der Leitung gehabt hatte?
Geschichten solcher Art erlebt jeder, doch die wenigsten schreiben sie auf. Ich hätte es auch nicht getan, wäre mir nicht das Buch NEULICH IN BERLIN in die Hand gefallen.
Darin berichtet der Kolumnist der „Berliner Zeitung“, Torsten Harmsen, „Kurioses aus dem Hauptstadt-Kaff“. Auch er erlebte in der Bahn so mancherlei wunderliche Geschichten: so als zwei beschwipste Frauen ihm, dem halb Schlafenden, aus voller Kehle ein Gute-Nacht-Lied sangen: „Der Mond ist aufgegangen“. Leider musste er in Ostkreuz raus. Aber auch in der Kantine, in der Muckibude, beim Altentreff oder im Sanitätshaus sammelte er Anekdoten ein, die dem Kern des Berliners auf den Leib rücken. Man muss ihnen nur richtig zuhören. Und sie so kurzweilig aufschreiben wie Torsten Harmsen.
Bei seinem Ausflug nach Sanssouci kommt er zum Beispiel ins Nachdenken über Maikäfer, als er einem Berliner Bengel dabei zusieht, wie der statt auf die Schlösser auf einen toten Käfer starrt und an ihm herumstochert. Die Eltern warnen ihren Spross vor diesem „Hoscher“. „Bloß die Finger weg. Wer weeß, wejen wat der dot is. Vielleicht kommt det Vieh aus Asien“. Nein, klärt der Autor den Leser schließlich auf: Es war nur ein Maikäfer. Aber wer kennt den schon noch?! Torsten Harmsen hat Glück: Er hat eine große Familie, auch älteren Kalibers, und die helfen ihm auf die Sprünge mit Wissen aus dem Altertum. Dass man zum Beispiel bis ins 20. Jahrhundert noch Suppen aus Maikäfern kochte. Und das Internet liefert prompt das Rezept dazu. Man nehme 30 Maikäfer, röste sie ohne Flügel und Beine in Butter an und gare sie dann in Brühe. Wenn das keine Wissensverzahnung ist!
Der Berlin-Flaneur Harmsen sinniert gern auch über seine ganz eigenen Eigenarten: warum er zum Beispiel nicht gerne Mützen trägt oder an einem Schoko-Riegel aus dem Bahnhofsautomaten nicht vorbeikommt. Als Wortjongleur schwingt er sich auf, wenn er über das Brunchen nachdenkt, dass sein Großvater so aussprechen würde, wie es geschrieben steht. Und die ewig meckernden Berliner mag er sowieso. Diese Muffelköppe, die sich erst so richtig wohl fühlen, wenn sie über andere herziehen und sie erziehen können. In seinen 120 „Neulichs“, die er für uns aufschrieb, findet sich jeder wieder. Und ganz nebenbei erfährt er eine Menge über Lebensweisheiten und Berliner Geschichte, dass zum Beispiel 1871 bei eine großen Pockenepidemie 11 000 Berliner starben. Und warum das Berlinern nicht ausstirbt, obwohl die meisten Berliner gar nicht aus Berlin kommen. Zwischen Augenzwinkern und Nachdenklichkeit findet er den passenden Ton, auch wenn einem nicht jedes „Neulich“ unbedingt vom Hocker reißt. Och ick kann jut meckern und jut berlinern, obwohl ick aus de uckermark bin. (he)
Neulich in Berlin. Kurioses aus dem Hauptstadt-Kaff, von Torsten Harmsen, erschienen im be.bra.verlag, 14 Euro.
Am 15. März, 20.15 Uhr, liest der Autor im Thalia Forum Köpenick, Bahnhofstraße 33-38, Eintritt acht Euro