Seit dem 6. März habe ich meine Enkel nicht mehr gesehen. Na klar, wir skypen, bekommen Videos, schreiben und malen uns Briefe. Derzeit schicken wir Fotos von unseren bemalten Ostereiern hin und her. Wir sind dauerdigital. Was gibt es also zu klagen? Die Vernunft sagt: Es ist eine Frage der Zeit, dann ist der ganze Spuk vorbei. Die Gesundheit ist das Wichtigste. Jeder nimmt auf den Anderen Rücksicht, noch viel mehr, wenn der Opa unter einer Vorerkrankung leidet. Wir kennen alle Argumente, Zahlen und Berichte, die uns von morgens bis in die Nacht begleiten und uns oft auch den Schlaf stehlen. Und dennoch: Es fällt so unendlich schwer, zu verzichten, auf das In-den Arm-Nehmen der Enkel, das Kuscheln, das gemeinsame Staunen und Wundern über die vorlauten Enten an den Römischen Bädern, über die dicken Bäume mit ihren zernarbten Häuten, die frechen Krähen und umherflitzenden Hunde. Keine Entdeckungsrunden mit dem Kinderwagen mehr durch den Park Sanssouci, kein Bude bauen, kein Fußballspielen mit dem Schulkindenkel …. Verlust offenbart Reichtum.
Ja es gibt Ablenkung. Die Zeit wird nicht lang: Der Garten lädt ein zum Schneiden, Pflanzen, Staunen. Wir sind privilegiert, können uns in unserem 1000-Quadrat-Meter-„Gehege“ ausbreiten. Auch die Kultur kommt ins Haus: mit Lesungen aus dem Hans-Otto-Theater, den Märchen und Geschichten vom Potsdamer Erzählwerk, den digitalen Museumsbesuchen – zum Glück habe ich Monet und Hagemeister noch live erwischt – der „Lesart“ auf Deutschlandfunk Kultur, wo unter anderem Lutz Seiler sein Zimmer bereist. Ich greife auf meiner Lesecouch zu Seilers preisgekröntem Buch „Stern 111“. Mit diesem Roman setzt er dem Kult-Kofferradio des Ostens, das auch ich mir einst mit stolzer Brust von meinem Jugendweihegeld kaufte, literarisch ein Denkmal. Der Dichter aus Wilhelmshorst schuf nach seinem „Kruso“ eine Art Fortsetzung und erzählt, wie Eltern kurz nach dem Mauerfall in den Westen ziehen, das Elternhaus verlassen. Und von den Gefühlen des zurückgelassenen Sohnes. Von Verlust und dem plötzlichen Alleinsein. Abgetrennt, Losgelöst vom Vertrauten.
„Getrennt von allen und doch vereint mit allen“, schrieb der Eremit und Wüstenvater Euagrios Pontikos vor fast 2000 Jahren. Ja, auch wir fühlen uns vereint: in der Familie, im Freundeskreis, im solidarischen Viren-Trotz. Dennoch steckt das Großmutter-Herz im Jammertal. he
Unsere Tipps im Überblick:
- Lesestoff: Lutz Seiler: Stern 111. Suhrkamp Verlag, 528 Seiten, 24 Euro
- Literatur für Groß und Klein, Hans Otto Backstage
- Einblicke digital in die Karl Hagemeister Ausstellung im Potsdam Museum
- Virtueller Rundgang durch die Monet Ausstellung im Museum Barberini
…das Großmutterherz im Jammertal! Besser kann man es nicht sagen, ich bin heute im tiefen Jammertal, mir fehlen meine süßen Enkelchen sehr.