Im Netflix-Sog: versunken auf der Fernsehcouch

Der Weg aus der Angst. Unorthodox schaut auf die Drangsal in abgeschotteten Gemeinden. (Foto: dpa)

Auch ich bin jetzt Netflixerin, ja sogar eine binge watching-Anwärterin. Was das ist? Man kann es auch als Komaglotzen bezeichnen oder als Serienmarathon. Schuld an dieser Sucht sind Tom Hanks und die 12-jährige Helena Zengel. Vor allem aber das Teufelszeug Corona. Eigentlich wollte ich nie auf die verführerische Netflix-Couch, in der fast jeder, der sie abonniert, versinkt. Mein Fernsehpensum bestritt ich bislang vor allem mit Arte und 3Sat – und hatte damit voll auf zu tun. Auch dem Sonntag-Abend-Tatort halte ich noch immer die Treue, obwohl er mich oft wütend macht, wie kürzlich die „Hetzjagd“ in Ludwigshafen, die das Thema Rechtsradikalismus butterweich kredenzte. Nun aber Hanks und Zwengel in „Neues aus der Welt“. In meiner Tageszeitung las ich die Kritik und wollte diesen Western natürlich sofort sehen. Doch Kinopremieren sind Dinge aus einer fernen Zeit, also fand die Erstausstrahlung bei Netflix statt.

Und so wurde schließlich auch ich verführt. Neues aus der Welt bot zwar sehr vorhersehbare Szenen, aber Helena Zengel bestach erneut mit ihrem stoisch-durchdringenden Blick, ihrer kraftvollen Präsenz, die wir in „Systemsprenger“ mit aller Wucht kennenlernen durften (übrigens ebenfalls auf der Plattform zu sehen).

Aus dem historischen Amerika reist der Netflixer nur einen Klick weiter ins heutige Amerika, das teils genauso anachronistisch anmutet wie das vor 200 Jahren. Jedenfalls in der Serie „Unorthodox“. Sie zeigt auf beängstigende Weise, wie Glaubensfanatiker Menschen drangsalieren, die nicht ihrem Weltbild entsprechen. Erzählt wird die Geschichte der jungen Jüdin Esty in der Satmar-Sekte in Williamsburg mitten in New York. Etsy wird dort zwangsverheiratet, die Rabbiner bestimmen über ihr Schicksal. Wie jedes Mitglied der Gemeinde bekommt auch sie die harte Hand der Geistlichen mit ihren Schläfenlocken zu spüren. Angst geht um hinter der unsichtbaren Mauer. Etsy soll wie alle Frauen vor allem Kinder kriegen, künftige Soldaten auf die Welt bringen, die die Tora beschützen und die die Toten aus der Shoah ersetzen. Geschlechtsverkehr ist oberste Pflicht. Etsy schafft es, sich aus der ständigen Beobachtung zu befreien, nach Berlin zu fliehen. Diese nach einer wahren Geschichte entstandene Serie zog mich so tief hinein, dass ich mich vor Mitternacht nicht vom Bildschirm lösen konnte.

Nicht anders erging es mir bei der Serie „Das Damengambit“: eine geradezu erotische Liaison zwischen Schachbrett und Spieler. Obwohl ich selbst nie über das Einmaleins dieses Denksports hinausgekommen bin, saß ich hier zwischen König und Dame fest. Wir sehen, wie feinnervig sich die Schauspielerinnen Isla Johnston und später Anya Taylor-Joy in das Mädchen Elizabeth Harmon hineinversetzen, die in den 1950er Jahren in einem Waisenhaus in Kentucky aufwächst. Im Keller des Hausdieners entdeckt die willensstarke „Beth“ ihr außergewöhnliches Talent zum Schachspielen. Doch die regelmäßige Einnahme von Beruhigungspillen lassen sie auch süchtig werden. Als Beth das Heim verlässt und adoptiert wird, erobert sie selbstbewusst die von Männern dominierte Schachwelt. Doch zwischen all ihren Erfolgen kommen immer wieder Abstürze. Dieses atemlose Balancieren am Abgrund – immer in den tollsten Kleidern – schürt Spannung und lässt den Zuschauer nicht los, bis auch der siebte Teil zu Ende ist.

Anke Engelke spricht als Trauerrednerin „Das letze Wort“. Foto: Netflix

Und nun „Das letzte Wort“. Diese deutsche Produktion huldigt ebenfalls einer starken Frau, hervorragend besetzt mit der Erzkomödiantin und tieflotenden Schauspielerin Anke Engelke. Sie spielt die lebenskluge Frau Karla, die auf ihrer Silberhochzeit zur Witwe wird und sich in der Folge als Trauerrednerin aufschwingt. Die Mittfünfzigerin schaut bei jedem neuen Todesfall vor allem auf die Hinterbliebenen, lässt die Trauerfeiern zu einem wahren Fest werden, auf dem auch gelacht werden darf. Und fast nebenbei bearbeitet Karla dabei ihre eigene Trauer. An ihrer Seite brillieren vor allem Thorsten Mertens als Bestattungsunternehmer und die Potsdamerin Nina Gummich als Karlas Tochter.  Auch „Das letzte Wort“ hat Sogwirkung und animierte mich zum binge watching.

Jetzt ist aber erstmal Netflix-Pause. Oder? Ein Blick aufs Abendprogramm bei ARD und ZDF verleiten schnell zum Fremdgehen. Noch aber widerstehe ich dem Mega-Pool, dem Seriensog, es sei denn, ich bekomme mal wieder eine Empfehlung. (he)

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