Lärmender Hexentanz: Hänsel und Gretel in der Biosphäre

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Hänsel und Gretel nicht im deutschen Wald, sondern in den Tropen. Gruselig wurde es trotzdem.

Das kleine Mädchen neben mir hat es genau eine halbe Stunde ausgehalten. Dann half auch kein Ohrenzuhalten und Einkuscheln auf Mutters Schoß mehr. Sie musste einfach raus: befreit werden von der lärmenden Gruselei rund um den Hexenbesen. „Hänsel und Gretel“ ist schon ein Schwergewicht für junge schwache Nerven, zumal wenn es in Opernform und noch dazu in so einer scheppernden Lautstärke präsentiert wird, wie gerade in der Biosphäre. Bis zur Pause war am Freitagabend von stimmlicher Brillanz und musikalischem Genuss keine Spur. Die Tonübertragung – jedenfalls im Block B – versetzte dem engagiert aufspielendem Sinfonieorchester Collegium musicum Potsdam unter Leitung von Knut Andreas und dem beherzt agierenden Darstellern eine schallende Ohrfeige. Wie schade! Denn man konnte ahnen, mit welcher Kraft und Leidenschaft sich das Ensemble in diese Produktion hineingeworfen hatte, zumal nach der Pause das Desaster etwas abgemildert werden konnte.

Für mich war der Abend eine spannende Wiederbegegnung, denn ich kannte die Inszenierung von Waltraud Prinz schon aus dem Hans Otto Theater. Dort kam sie vor gut 25 Jahren zur Aufführung, als es noch eine Musiktheatersparte gab. Gabriele Näther, die damals den Hänsel sang, kam nun schwungvoll auf dem Roller als Sandmännchen und Taumännchen in den Märchenwald gefahren, die damalige Hexe, Eva-Marlies Opitz, saß im Publikum des ausverkauften Hauses. Sie erzählte mir in der Pause, dass diese Oper keineswegs ein leichtes Spiel für die Sänger sei: Sie müssen sich gegen den wuchtigen Klang des großen Orchesters behaupten. In der Biosphäre bekamen die Sänger Mikroports zur Stimmverstärkung angeheftet, was wiederum zu Verzerrungen führte. Mit Birgit Wahren, Dana Hoffmann, Ilona Nymoen und Till Schulze standen dem Orchester ausgewiesene Könner ihres Fachs zur Seite, die mit ihrer großen Spielfreude das technische Manko etwas wettmachten. Und nach der Pause endlich auch mit feineren Tönen aufwarten durften.

Da die tropische Pflanzenwelt dem unheimlichen deutschen Wald atmosphärisch nicht das Wasser reichen kann, wählte Waltraud Prinz für die leicht eingekürzte und entschlackte Inszenierung in der Biosphäre das Märchenbuchprinzip. Die riesige Spielfläche sollte an groß aufgeschlagene Seiten einer Buchillustration erinnern. Eine durchaus gelungene Idee, zumal man von allen Plätzen gut auf die sich heraushebene Bühne schauen konnte. Dort beseelten der Tausendsassa Hänsel, seine liebenswerte Schwester, der beschwipste Vater, die durch Armut auch innerlich ausgedörrte Mutter und die Hexe mit ihrem gurrenden Lachen das konfliktreiche Feld. Das war schwungvoll und heutig und keineswegs verstaubt.

Wenn in den beiden kommenden (ausverkauften) Vorstellungen auch noch die Technik mitspielt, könnte dem weihnachtlichen Opernglanz die Spitze aufgesetzt werden. Doch überlegen Sie genau, ab welchem Alter Sie Ihre Kinder oder Enkel mitnehmen: Die Aufführung dauert 2, 5 Stunden mit 25-minütiger Pause. Ein dreijähriger Junge vor mir hielt erstaunlicherweise durch und ertrug mit weit aufgerissenen Augen auch den Hexentanz. Das etwa sechsjährige Mädchen neben mir wollte, wie gesagt, nichts wie weg. Ich war froh, dass ich meinen kleinen zartbesaiteten Enkel nicht dabei hatte. Denn trotz der reich ausgeschmückten Musik und der zeitlos schönen Kinderlieder, wie „Brüderchen, komm tanz mit mir“ oder „Suse, liebe Suse“ ist diese Durchquerung des (inneren) Waldes, wie es im Programmheft heißt, durchaus eine Herausforderung: bei aller hehren pädagogischen Absicht, zu zeigen, wie die kleinen Helden ihre Ängste überwinden und sich vom Elternhaus abnabeln. Wenn der Grusel zu groß ist, verschnürt sich das Herz. (he)

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