Adam Fletcher, ein in Berlin lebender englischer Autor, zählt in seinen Büchern und Kolumnen gerne auf, was für ihn typisch deutsch ist. Neben „Müll recyclen“ und „sich versichern“ steht ganz weit oben auf der Liste: „Tatort gucken“. Der Tatort ist für Millionen Deutsche mehr als nur ein TV-Krimi – er ist der ritualisierte Ausklang des Wochenendes. Ob im Wohnzimmer, der Studi-WG-Küche oder gar beim Public Viewing inklusive Täterraten (in Potsdam zum Beispiel im „11-line“ oder im „Zweitwohnsitz“), der Sonntagskrimi hat Anhänger in allen Altersgruppen. Seine Einschaltquoten können sogar mit Fußball-Länderspielen mithalten. Vor unglaublichen 46 Jahren wurde die allererste Folge ausgestrahlt. Damit ist der Tatort die am längsten laufende deutsche Krimiserie. Am vergangenen Sonntag lief die 1000. Folge.
Vor etwa drei Jahren – ich lag mit einem gebrochenen Bein zu Hause und hatte viel Zeit auf der Couch – kam ich auf den Gedanken, dass es doch interessant wäre, einmal den allerersten Tatort „Taxi nach Leipzig“ zu sehen. Man findet ihn praktischerweise in ganzer Länge auf Youtube. Auch wenn das Erzähltempo, die Charaktere und die Atmosphäre sich deutlich von heutigen Folgen unterscheiden, so war ich doch von Beginn an fasziniert. Der stets tief in sich ruhende Hamburger Kommissar Paul Trimmel bekommt darin ein Amtshilfegesuch aus der DDR. Es geht um einen Kindesmord mit Verbindungen nach Westdeutschland. Trimmel versucht diesen Fall, in dem sich einige Ungereimtheiten auftun, letztlich auf eigene Faust und auf Umwegen zu klären. In der titelgebenden Situation etwa täuscht Trimmel eine Autopanne auf der Transitstrecke der DDR vor, um mit einem Taxi nach Leipzig zu gelangen, wo er die Mutter des Kindes ausfindig machen will.
Charaktervolle Schauspieler und ein Plot im Spannungsfeld der Wirren zweier deutscher Staaten machen diesen Tatort nicht nur zu einem guten Krimi, sondern auch zu einem ganz besonderen Zeitdokument anno 1970.
In der 1000. Folge aus dem Jahr 2016 geht es wieder mit einem Taxi nach Leipzig. Doch diesmal sitzen Kommissar Borowski aus Kiel (Axel Milberg) und seine Hannoveraner Kollegin Lindholm (Maria Furtwängler), die beide in diesem Tatort erstmals aufeinander treffen, nicht ganz freiwillig im Wagen. Der Zufall will es, dass die Kommissare nach einer Schulung in Braunschweig vom Ex-Elitesoldaten Rainhald Klapprath (Florian Bartholomäi) in seinem Taxi mitgenommen werden. Dieser aber ist von Rachegelüsten und posttraumatischen Störungen zerfressen und nimmt beide als Geiseln, während ein dritter Kollege auf dem Beifahrersitz schon die ersten Kilometer nicht überlebt. Eine düstere Fahrt durch Deutschland beginnt. In Leipzig will Klapprath seinen ehemals vorgesetzten Offizier zur Rede stellen, der ihm nicht nur im Einsatz in den Rücken gefallen ist, sondern zu alldem auch noch seine Ex-Freundin „tröstet“ und kurz davor steht, sie zu heiraten. Während der Fahrt durch die dunkle Nacht wird der Zuschauer in die Gedanken und Ängste der Protagonisten eingeweiht. Es ist vor allem ein Psychospiel, bei dem angesichts der Ausnahmesituation die charakterlichen Schwächen und Traumata aller Beteiligter offenbart werden.
Damit ist man vielleicht auch schon bei dem Punkt, der heutige Tatorte am meisten vom klassischen TV-Krimi unterscheidet. Waren früher integer wirkende Beamte wie Kommissar Trimmel schlicht dazu da, souverän die Fälle zu lösen, ist in aktuelleren Tatorten die Charakterentwicklung der Kommissare teilweise spannender, als es die einzelnen Fälle sind. Dabei sind die heutigen Kommissare mitunter von eigenen Schicksalen gezeichnete menschliche Wracks (Faber in Dortmund) und Trinker (Steier in Frankfurt, bis 2015), haben selber mutmaßlich Leichen im Keller (Karow in Berlin) oder sind wie in den meisten Fällen doch zumindest im Privaten einsam und unglücklich (Bönisch in Dortmund, Lindholm in Hannover). Kein Wunder also, dass die Münsteraner oder Weimaraner mit ihrem Hang zum Klamauk scheinbar für viele Zuschauer eine willkommene Abwechslung bieten, betrachtet man zumindest die Beliebtheitsskala der Kommissargespanne. Mein Lieblingsgespann ermittelt indes in Dortmund: verlässlich zynisch und düster. Dabei ist Chefermittler Faber, gespielt von Jörg Hartmann, im echten Leben ein Potsdamer.
Natürlich hat man das sonntägliche Einschalten auch das ein oder andere Mal schon bereut, aber treue Tatortgucker bleiben wir dennoch. Und bei der 1000. Folge „Taxi nach Leipzig“ kommen die nach Spannung lechzenden Zuschauer bestens auf ihre Kosten. Zudem ist der Krimi voll mit Zitaten und Anspielungen auf die allererste Folge, nicht zuletzt durch verschiedene Cameo-Auftritte von Tatort-Schauspielern und Autoren der ersten Stunde – aber das ist vermutlich selbst für die absoluten Tatort-Nerds zu viel im Detail.
Im Anschluss an den Krimi führte Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) als derzeit dienstälteste Ermittlerin noch einmal rückblickend durch das Tatort-Universum von Trimmel über Schimanski bis Thiel und Börne. Diese unterhaltsame Doku war noch einmal ein Beweis dafür, warum der Tatort nun einmal die Lieblingsbeschäftigung vieler Deutschen am Sonntagabend ist und das Format sicher noch in hunderten weiteren Folgen erfolgreich funktionieren kann. Vor allem, weil sich der Tatort stets ein bisschen neu erfindet und seine Geschichten immer auch mit einem Blick auf aktuelle gesellschaftliche Themen erzählt. (ro)
Der Tatort „Taxi nach Leipzig“ (2016) ist noch einige Tage in der ARD-Mediathek zu sehen: http://mediathek.daserste.de/Tatort/Taxi-nach-Leipzig/Video?bcastId=602916&documentId=38913308
Ebenso findet sich dort auch die unterhaltsame Doku zum 1000. Tatort-Geburtstag: http://mediathek.daserste.de/Tatort/1000-Tatort-Sonntagsm%C3%B6rder-Ermittlun/Video?bcastId=602916&documentId=38916076