Martina König über ihr Projekt „Unzähmbar – Klassik und Lyrik für den Frieden“ in der Französischen Kirche

Foto: Sie geben dem Frieden eine kraftvolle Stimme. Andrej Lakisov, Bernd Gesell und Timofey Sattarov (v.l.)

Martina, hinter Dir liegen vier umjubelte Konzerte in der Französischen Kirche Potsdam. Weitere folgen. Unter der Überschrift „Unzähmbar – Klassik und Lyrik für den Frieden“ bieten dort erstklassige Künstler ein breit gefächertes Programm: mit Musik von Piazzolla über Bach und Chopin bis hin zu Eigenkompositionen. Wie spiegelt sich darin der Friedensgedanke, den Du als Leiterin des Theaterschiffs nun in diesem Gotteshaus verfolgst?

Sie möchte mit dem Publikum in eine Art Gebet treten: Martina König, Künstlerische Leiterin des Theaterschiffs. Fotos: Julius Ruge

Wir möchten die Zuschauer dazu einzuladen, in der Gemeinschaft des Konzertabends in eine Art Gebet für den Frieden zu gehen. Die klassische Musik berührt immer die Mitte des Menschen, sagt unser „Unzähmbar“-Saxophonist Andrej Lakisov. Wir suchen die bewusste Verbindung von Klassik mit Weltmusik und Jazz, um zu beweisen, dass es keine Grenzen in der Musik gibt. Also auch ein Aspekt des Friedensgedankens.

Warum seid Ihr aus dem Raum des Theaterschiffs herausgetreten, wo die ersten beiden Friedensprojekte stattfanden?

Die Französische Kirche und die Französisch-Reformierte Gemeinde stehen für Toleranz, Akzeptanz und Gleichberechtigung, was sich unter anderem auch in der runden Form der Kirche und in dem Halbkreis, in dem die ZuschauerInnen sitzen, ausdrückt. Das passt gut zu unserem Anliegen. Borys Borysenko sagte 2023 in einem Interview auf die Frage, was er sich als Regisseur seines Projektes „Sichtbare Gedanken“ wünsche: Alles Gute und Liebe für die ZuschauerInnen. Ich bin mir sicher, dass diese Gefühle der Menschheit Frieden bringen werden. Deswegen haben wir in diesem Projekt klassische Musik mit Liebeslyrik der Weltliteratur verbunden, um auch noch die Worte zu den Herzen der Menschen zu bringen.

Borys Borysenko ist ein aus der Ukraine geflüchteter Künstler, dem es mit seiner einfühlsamen und pointierten Pantomime gelingt, in jedes Herz vorzudringen. Kannst Du uns erzählen, wie Ihr Euch kennengelernt habt?

Es war eine zufällige Begegnung. Ich hatte vor meiner Wohnung im Holländischen Viertel einen kleinen Stand und verkaufte Kunstpostkarten meines Sohnes. Borys kam mit Freunden vorbeigeschlendert und zeigte sich interessiert an diese Karten. Er schaute lange auf die Karten. Sehr lange. Und irgendwann sagte er auf Englisch, er sei physical actor und spielte mir eine klassische Pantomimenbewegung vor. Da ich vorher Russisch in der Unterhaltung der Gruppe gehört hatte, fragte ich, woher er komme und erfuhr, aus der Ukraine. Ich sagte, ich leite ein kleines Theater, holte ihm einen Flyer des Theaterschiffes und lud ihn ein, vorbeizukommen. Er kam. Wir entwickelten unser erstes Projekt: „Das Schiff, auf dem das Licht lebt“. Da unsere Bühne sehr klein ist, schlugen wir ihm vier KünsterInnen vor. Borys kam mit zwölf Künstlerinnen, StudentInnen von der berühmten Zirkusschule aus Kiew und KünstlerInnen aus Frankreich, Italien, Russland und den USA, die dieses Projekt unterstützen wollten.

Der Erfolg gibt Euch Recht. Die Menschen sehnen sich offensichtlich nach einem Zusammenrücken, nach künstlerisch hochambitionierten Herzöffnern.

Ja, 2000 Menschen kamen zu uns. Das ist nicht Nichts! Ich hatte anfangs das Gefühl, dass man sich nicht mehr traut, über den Frieden zu reden, dass man die Kriegssituation als Alltäglichkeit abnickt. Damit konnte ich mich nicht abfinden. Von dem Zeitpunkt an, als Borys vor fast zwei Jahren auf der Straße vor mir stand, sind bis heute drei Projekte entstanden, die den Friedensgedanken mit den Mitteln hochkarätiger Kunst zu den Menschen getragen haben. Das empfinde ich als echte gelebte Friedensarbeit.

Aber Kunst wird den Krieg nicht beenden können. Dazu bedarf es der Politik.

Ich bin nicht Politikerin, sondern Dramaturgin und ein Mensch mit einem Herzen und Kindern und Enkelkindern. Beruflich mache ich das, was meine Aufgabe ist: Themen, die uns unter die Haut gehen, einem Publikum zur Auseinandersetzung anzubieten. Und als Mensch wünsche ich mir, dass meine Kinder und Enkelkinder weiter in Frieden leben können und es Frieden für alle Menschen gibt. Ohne Frieden geht unser Leben nicht weiter. So einfach ist das.

Die „unzähmbaren“ Künstler kommen aus zahlreichen Ländern, ohne dass sie ihre Herkunft im Programmheft preisgeben. Warum?

Versunken in der Musik. Timofey Sattarov brilliert auf seinem Akkordeon.

Es war meine Idee, die Nationalität bei diesem Projekt wegzulassen, um diesen Gemeinschaftsgedanken noch konsequenter hervorzuheben, deutlich zu machen. Und weil die Herkunft auch automatisch immer mit Zuordnungen verbunden ist, die nichts mit unserem Anliegen zu tun haben.

Aber die Wurzeln gehören zu jedem Menschen dazu.

Wir leben aber tragischerweise in einer Zeit, in der Menschen angefeindet werden wegen ihrer Herkunft. Wenn vor uns jemand mit seinem Instrument steht und uns die schönsten Melodien vorspielt, ist es doch unwichtig, woher er kommt.

Kann Musik das Gefühl der Ohnmacht auflösen?

Musik geht zu Herzen, und man darf die Kraft der Menschengemeinschaft, das Zusammenstehen, nicht unterschätzen. Es gibt in dem 2020 veröffentlichten Buch „Was bleibt sind die Worte“ ein wunderbares Beispiel, wie zwei Männer trotz ihres schmerzlichen Schicksals miteinander Frieden machen. Der eine hat seine Tochter beim Terroranschlag 2015 im Pariser Bataclan-Club verloren, der andere ist der Vater des jugendlichen IS-Terroristen, der dieses Mädchen getötet hat. Die trauernden Väter sind nicht in den Krieg gegangen, sondern es gelang ihnen, aufeinander zuzugehen. Wenn Opfer und Täter es schaffen, miteinander zu reden, scheint das viel bewirken zu können.

Am 27. Januar findet in der Französischen Kirche das fünfte Konzert der Reihe „Unzähmbar – Klassik und Lyrik“ für den Frieden statt, und am 3. März ist dort die Premiere der Collage „Was bleibt, sind die Worte“. Was erwartet die Zuschauer?

Die Vorlage für diesen Abend ist das Buch mit dem Gespräch der beiden Väter nach dem Verlust ihrer Kinder bei dem Bataclan-Anschlag. Es wird eine Collage für zwei SchauspielerInnen und eine Tänzerin sein. Das Kollektiv „Unzähmbar“ komponiert Musik eigens für diesen Abend. Die musikalische Leitung hat Andrej Lakisov.

Der begnadete Saxophonist, der die Töne in schwindelerregender Höhe tanzen lässt und mit seinen „unzähmbaren“ Künstlerfreunden sowie dem Publikum in der Französischen Kirche mehrfach ein wahres Fest der Herzen feierte. Vielen Dank!

Das Gespräch führte Heidi Jäger.

Vielleicht verschenken Sie eine Eintrittskarte für das nächste Konzert am Samstag, den 27. Januar, um 19.30 Uhr in der Französischen Kirche zu Weihnachten?! Damit machen Sie garantiert nichts falsch. Sie können die Karten für 28 Euro/ erm. 18 Euro (für Schüler, Studenten und Rentner) auf der Webseite des Theaterschiffs erwerben.

Weitere Informationen unter www.theaterschiff-potsdam.de

 

Der unzivilisierte Wilde: Ein Podcast mit Linda Zervakis kommt der Malerikone Monet näher auf die Schliche

Wenn die Sonne ins Wasser fällt.

Wurde Monets berühmtes Gemälde „Impression“, das einer ganzen Kunstepoche den Namen gab, eigentlich beim Sonnenaufgang oder beim Sonnenuntergang gemalt? Um das zu klären, studierten Wissenschaftler das akribisch geführte Schleusenbuch vom Entstehungsort Le Havre mit allen Schließ- und Öffnungszeiten. Ja sie befragten sogar die Astrophysiker, um auf Nummer sicher zu gehen. Das Ergebnis: Monets Meisterwerk entstand 1872 in der Früh – von einem hoch liegenden Hotelfenster aus: innerhalb von nur einer Stunde. So jedenfalls bekundete es Monet, der Popstar der Kunstgeschichte, höchstselbst. Wer in den sechsteiligen Doku-Podcast MONET – Zeiten des Umbruchs mit der ehemaligen Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis eintaucht, erfährt allerdings auch, dass Monet seine Vita gern hier und dort aufpolierte, ihr etwas mehr Dramatik verlieh. → weiterlesen

Ulrikes Draesners Roman „Die Verwandelten“ erzählt über die SS-Lebensborn-Heime, über Nebelkinder und übers Schweigen zum Überleben

Virtuos. Ulrike Draesners Roman ist nominiert für Leipzig. Foto: Butzmann

Ulrike Draesners Buch „Die Verwandelten“ verlangt dem Leser einiges ab. Die Erzählstränge mäandern in wilden Bahnen. Doch sie ziehen immer wieder mit magischer Wortgewalt in die Abgründe der Geschichte zurück. Der für den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse nominierte Roman beschreibt das Schicksal von Frauen über vier Generationen. Dabei geht es immer wieder um die Frage: Was bedeutet es für ein Kind, wenn es von seiner Mutter weggegeben wird?→ weiterlesen

„Nackt in die DDR“: Aron Boks versucht, seinen Urgroßonkel Willi Sitte zu ergründen

Vielgesichtig. Willi Sitte im Selbstporträt von 1980

Wahrscheinlich hätte ich nicht zu einem Buch über den DDR-Maler Willi Sitte gegriffen. Vor allem seine späten Bilder waren mir oft zu monströs: Grobe Fleischeslust statt spannungsreicher Sinnlichkeit. Doch nun hatte sich Aron Boks, sein Urgroßneffe, ans Werk gemacht, und sich auf die Spurensuche nach seinem 2013 verstorbenen umstrittenen Verwandten begeben. Den 25-Jährigen durfte ich bereits zweimal als begnadeten Moderator beim Poetry Slam im Waschhaus erleben: witzig, selbstironisch, schlagfertig. Also griff ich auch zu seinem dokumentarischen Erstling. Und las mich fest!

→ weiterlesen