Ulrikes Draesners Roman „Die Verwandelten“ erzählt über die SS-Lebensborn-Heime, über Nebelkinder und übers Schweigen zum Überleben

Virtuos. Ulrike Draesners Roman ist nominiert für Leipzig. Foto: Butzmann

Ulrike Draesners Buch „Die Verwandelten“ verlangt dem Leser einiges ab. Die Erzählstränge mäandern in wilden Bahnen. Doch sie ziehen immer wieder mit magischer Wortgewalt in die Abgründe der Geschichte zurück. Der für den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse nominierte Roman beschreibt das Schicksal von Frauen über vier Generationen. Dabei geht es immer wieder um die Frage: Was bedeutet es für ein Kind, wenn es von seiner Mutter weggegeben wird?

Wir tauchen ein in das Leben von Adele, die ihre Tochter Alissa nach Steinhöring in ein Lebensborn-Heim bringt, „für die rosige Zukunft der Rasse“. Die Nationalsozialisten errichteten diese Heime, um die Geburtenzahlen im Reich zu steigern. Vorzugsweise an Mitglieder der SS wurden die dort entbundenen und untergebrachten unehelichen Kinder zur Adoption vermittelt. Reichsführer Heinrich Himmler notierte 1936: „In 18 bis 20 Jahren werden dank Lebensborn 18 bis 20 Regimenter mehr marschieren.“ Das war das Ziel der Nationalsozialisten. „Nicht der Frauenschutz. Nichts Soziales. Die nicht abgetriebenen Kinder sollten dem Reich als weibliches Gebär- und männliches Schlachtenmaterial erhalten sein.“ Sie waren Stoff. So wie Alissa.

Ihre Mutter Adele träumte indes davon, zur See zu fahren. Als Frau ein schwieriges Unterfangen. Zumal im Krieg. Also arbeitete sie erstmal als Köchin und ging eine Liaison mit ihrem Dienstherrn ein: einem verheirateten Theatermann, kreativ und labil. Adele schenkte ihm ihre Kraft. Und ein Kind. Doch die Dienstherrin sperrte sich gegen diese „Bankertschande“ im eigenen Haus. Sie drängte darauf, Alissa in ein „echtes Zuhause“ zu bringen. Alissa findet durch Lebensborn neue Eltern: Gerd und Gerda. Sie haben selbst tiefe Verletzungen erlitten. Fehlgeburten, einen Säuglingstod. Gerda ritzt sich, um sich zu spüren. Doch darüber wird nicht gesprochen. Wie auch Alissa als Erwachsene wenig preis gibt über ihre Vergangenheit. Ihre Tochter Kinga, Hauptfigur im Roman, versucht Licht in die Geschichte ihrer Familie zu bringen. Und stößt immer wieder auf Mauern, auf ein großes Schweigen. Als Nebelkind fühlt sich Kinga abgeschnitten von der eigenen Geschichte. Ganz behutsam legt Ulrike Draesner die Fehlstellen der Erinnerung frei. Dabei führt uns die Geschichte nach Breslau, dann wieder ins Voralpenland, wo einst das Lebensbornheim stand.

„Ich machte mit dir, was mir zugestoßen war“, sagt Alissa. So wie sie von ihrer leiblichen Mutter weggegeben wurde, entzog sie ihrer Tochter Kinga die Großeltern Gerd und Gerda, als sie ihnen gerade ans Herz gewachsen war. „Es gefiel mir und schmerzte mich.“

Kingas Halbcousine Dorota fasst dieses Dilemma der Schmach und Einsamkeit in einem Satz zusammen: „Hundert Jahre wirken Erschütterungen nach.“ Wer etwas von einem Menschen erzählen oder verstehen wolle, der müsse von hundert Jahren erzählen.

Ulrike Draesner nimmt sich auf 600 Seiten Zeit und Raum für diese Zeitspanne. Ihre bildreiche virtuose Sprache ist wie ein Sog, sich durch dieses feingesponnene Familiendickicht zu arbeiten. Adele, Alissa, Kinga und schließlich auch die von Kinga adoptierte Flummy – sie alle tragen tiefe Verwundungen in sich und haben dennoch die Stärke, nicht daran zu zerbrechen.

Die 1962 in München geborene, vielfach ausgezeichnete Romanautorin und Lyrikerin Ulrike Draesner ist Professorin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. „Die Verwandelten“ ist der letzte Teil einer Romantrilogie, die um die Themen Krieg, Flucht und Vertreibung kreist. Er ist einer der fünf Nominierten für den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse. he

 

 

 

Ulrike Draesners Roman „Die Verwandelten“ ist im Penguin Verlag erschienen und kostet 26 Euro. Weitere Informationen zu Autorin und Buch unter www.dieverwandelten.de

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