„Nackt in die DDR“: Aron Boks versucht, seinen Urgroßonkel Willi Sitte zu ergründen

Vielgesichtig. Willi Sitte im Selbstporträt von 1980

Wahrscheinlich hätte ich nicht zu einem Buch über den DDR-Maler Willi Sitte gegriffen. Vor allem seine späten Bilder waren mir oft zu monströs: Grobe Fleischeslust statt spannungsreicher Sinnlichkeit. Doch nun hatte sich Aron Boks, sein Urgroßneffe, ans Werk gemacht, und sich auf die Spurensuche nach seinem 2013 verstorbenen umstrittenen Verwandten begeben. Den 25-Jährigen durfte ich bereits zweimal als begnadeten Moderator beim Poetry Slam im Waschhaus erleben: witzig, selbstironisch, schlagfertig. Also griff ich auch zu seinem dokumentarischen Erstling. Und las mich fest!

Aron Boks Buch „Nackt in die DDR“ wandelt leichtfüßig, aber keineswegs oberflächlich auf den Wegen Willi Sittes, des Staatsmalers, hohen Funktionärs und selbstverliebten Machtmenschen. Doch diese drei Schlagwörter skizzieren nur schemenhaft und grobschlächtig die Persönlichkeit Sittes. Boks lässt anekdotenreich ein vielgesichtiges Porträt entstehen, das sich vor einer Schwarz-Weiß-Malerei hütet. Er befragt Freunde und Widersacher, einstige IMs der Staatssicherheit und seine in den Westen abgehauenen Meisterschüler, wie den von Sitte hochgeschätzten Dieter Weidenbach. Er fängt auch die einstigen Freundschaften zu den Schriftstellerpaaren Christa und Gerhard Wolf sowie Sarah und Rainer Kirsch ein, die nach der Biermann-Ausweisung zerbrechen.

Aron Boks Foto: privat

Der Autor lässt sich nicht abspeisen mit kurzen Urteilen und Vermutungen. Er zitiert Briefe, beißt sich an Details fest, um genau in der Recherche zu sein. Wurde Sitte 1943 nun in Italien Partisan, als er bei der Deutschen Wehrmacht desertierte, oder ist das eine Legende? Der Urgroßneffe sucht die Orte der Vergangenheit auf, spricht mit allen Zeitzeugen, die er auftreiben kann. Der in Berlin lebende junge Autor, geboren in Wernigerode, erzählt in entspannter Tonlage, wie aus dem einstigen Quergeist, der seine Vorbilder in Picasso und Léger findet, ein vehementer Verteidiger des sozialistischen Realismus wird. Auch die zwei Selbstmordversuche von Willi Sitte aufgrund einer unerfüllten Liebe zu seiner Studentin an der Burg Giebichenstein in Halle beleuchtet Aron Boks näher. Und er sieht, wie sich mit einer neuen erfüllten Liebe der Malstil von Sitte ändert. Der Slam Poet bewahrt in seinem hartnäckigen Hinterfragen die Distanz und sucht zugleich nach Parallelen zu seinem eigenen Leben.

Mit dem 1940 naturalistisch gemalten Sitte-Bild „Die Heilige Familie“, das lange auf dem Dachboden schmorte und dessen Signatur der Schere zum Opfer fiel, weil das Bild sonst nicht in dem vorhandenen Rahmen gepasst hätte, findet Aron Boks einen Spannungsbogen, der sich immer wieder verästelt, aber nicht verloren geht. Gerade von der Kriegs- und Nachkriegszeit entsteht ein pastoses Zeitgemälde, das weit über einen biografischen Ausflug hinausgeht. Bei den 80er Jahren geht der Lese-Kurzweil mitunter etwas die Puste aus, so wie dem ganzen Land. Aber dieses Buch lässt viel von meinem eigenen Erleben hochkochen und mich auch manche Sitte-Bilder neu und differenzierter betrachten.

„Nackt in die DDR“ ist kein spröder Abgesang auf die DDR, sondern eine von Neugier und Akzeptanz getragene Annäherung. Der in der DDR oft zitierte Spruch „Lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt“ verweist auf den schwierigen Stand, den Willi Sitte zeitlebens in der von ihm verehrten Arbeiterklasse hatte. Doch so wie in seinen Bildern hatte er sich auch als Partei-Funktionär mit all den Privilegien und Reisefreiheiten weit von seinem Publikum entfernt. he

 

 

 

Aron Boks, „Nackt in die DDR. Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat“, Verlag HarperCollins, 24 Euro

 

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