Vorsicht Zwerge! Die Kulturhauptstadt Wroclaw zeigt sich frech, bunt und lauschig

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Nein, Herr Geheimrat, in diesem Falle muss ich Ihnen widersprechen! Ihr einziger Satz, den sie je über Breslau verfassten, ist nicht in Stein gemeißelt. „Breslau stinkt!“ wussten Sie, Herr von Goethe, anno 1790 zu berichten. Uns begegnete Ende Mai 2016 diese Stadt an der Oder indes mit herrlichen Holunder- und Akaziendüften, die sich quer durch die lauschigen farbenfrohen Plätze am Ring, Salzmarkt, Domplatz – und wie sie alle heißen – zogen.

Ich gebe zu, dass unser erster Eindruck mit rollendem Koffer vom Bahnhof ins Zentrum fast ähnlich miesepetrig ausgefallen wäre: Mausgraue, trübsinnig dreinschauende Fassaden im Plattenbau-Schick, auf denen knallrote Geranien wie Clownsnasen wirken, säumten den holprigen Weg. „Breslau versinkt“ schoss es mir durch den Kopf. Vorschnell, wie ich bald merkte. Nachdem die Last des Koffers im Hotel abgeworfen war, stellte sich diese niederschlesische Stadt als geradezu fröhlicher Spielplatz von Architekturen und Kulturen dar. Wroclaw heißt die stolze Schöne, die etwas größer als Leipzig ist, und die bereits über 30 Namen in ihrer wechselvollen Geschichte trug. Auch wenn man sie heute unbedacht noch Breslau nennt, wird man nicht gleich des Revanchismus verdächtigt, wie noch in Vorwende-Zeiten.

Wir hatten das Glück, eine Stadtführung mit Pjotr von der Stiftung Free Walking Tour zu erwischen; einem jungen Polen, der nicht nur ein Hohelied auf die Bier- und Esskultur seiner Stadt anzustimmen wusste, sondern auch locker freigeistig über die deutsch-polnische Vergangenheit redete und über seine politische Enttäuschung angesichts der derzeitigen nationalkonservativen Regierung. „Die liebste Sportart der Polen ist derzeit das Demonstrieren!“ Sie sind kampferprobt, diese Polen und natürlich auch die Wroclawer. Davon zeugen allein die 395 Bronze-Zwerge, über die man allerorten „stolpert“ (zum Teil mit einmontierten GPS gegen Langfinger, warnt Pjotr). Diese kleinen skurrilen Skulpturen ermuntern mit Witz und harter Stirn: „Zwerge aller Länder vereinigt euch“. Entstanden sind sie als „Hippies des Widerstands“ in den 80ern als Reflex auf die sozialistische Diktatur. Aufrührerische Slogans der Oppositionellen ließ die Obrigkeit übermalen, die Verfasser wegsperren. Aber auf einen Feldzug gegen Zwerge zu gehen, die nun aufgestellt und auf Wände gesprüht wurden, das war selbst den Betonköpfen zu dumm. Heute jedenfalls setzen verschiedene Künstler der Stadt immer wieder neue originelle Zwerge als Achtungszeichen vor Banken, Kirchen oder einfach mitten hinein ins Touristengewusel. Und das ist derzeit besonders groß: Schließlich konnte sich Wroclaw unter sechs polnischen Städten im Vorentscheid und schließlich europaweit neben dem baskischen San Sebastian als Kulturhauptstadt 2016 durchsetzen. Lublin als einer der polnischen Verlierer zeigt sich keineswegs verprellt, sondern füllt an unserem Ausflugswochenende mit knallbuntem Theater, Trapezkünstlern und Balkanbeats die laue Sommernacht. Es bedarf eigentlich gar keines Zusatz-Kulturprogramms, um sich von dieser Stadt inspirieren zu lassen. Allein ein Konzert im neu erbauten Musikforum ist wie ein Paukenschlag!

Gut drei Tage ließen wir uns durch die Stadt der 100 Brücken, dem Venedig des Nordens, treiben – fast kurzatmig, um nichts zu verpassen: Kirchen, Jazzklubs, Galerien … Überall trafen wir auf nette Leute,  und auf aufwühlende Skulpturen, die Geschichte erzählen: von dieser Stadt, deren Bevölkerung 1945 fast gänzlich ausgetauscht wurde. Die Deutschen mussten fliehen. Stattdessen kamen die Polen, die wiederum aus ihren Häusern im Osten des Landes – die meisten aus der Gegend um Lemberg – verjagt wurden.  Stalin gab den Ton an und verschob im Bunde der Viermächte Grenzen und Familien. Zuvor ließ er im Frühjahr 1940 in Katyn und umliegenden Orten 22000 polnische Offiziere, Polizisten und Intellektuelle erschießen. Auch von dieser lange verschwiegenen Vernichtung erzählt eine Plastik: eine Frau, die ihren toten Mann wie erstarrt im Schoß hält.

Eine andere Skulptur mischt sich an der Ampelkreuzung vor dem eleganten ehemaligen Wertheim-Kaufhaus nachhaltig ins Straßengeschehen ein. Eine Gruppe von Menschen, darunter eine Frau mit Kinderwagen, versinkt förmlich im Boden und kommt altersgrau auf der anderen Straßenseite wieder heraus. Dieses Plastik-Ensemble „Übergang“ erinnert an die Untergrundbewegung in den 80ern, als sich polnische Oppositionelle vor der Staatssicherheit verstecken mussten. Das rührt an, das setzt sich fest.

Danach stolpert man gern wieder über einen vorwitzigen Zwerg, um gelösten Schrittes weiter zu flanieren. Aber Vorsicht: Nicht bei Rot die Straße queren und auch nicht offen eine Bierbüchse durch die Gegend tragen. Das kostet 25 Euro Strafe, wusste Pjotr zu berichten.

Natürlich darf auch das „Viertel der vier Bekenntnisse“ nicht unerkundet bleiben: wo sich Anhänger aller Religionen in ihren Gotteshäusern friedlich treffen; vor der Synagoge lauthals im Biergarten bei den Fußball-Übertragungen. Denn auch die Polen lieben Fußball über alles und haben schon mal den Weltmeister Deutschland besiegt. Da bleibt natürlich in der Stadtführung nicht unerwähnt.

Die führt auch durch die Neon-Gasse, in der abends Firmennamen aus sozialistischen Zeiten, die eigentlich eingestampft werden sollten, erstrahlen. Doch da standen die jungen Polen vor: Nun säumen ihre Graffiti diese Leuchtreklamen aus dunklen Vor-Zeiten. Schön, wenn sich alles so friedlich und feierfreudig mischt. Und obendrein die Katholiken ihren Weihrauch dazu geben: an Fronleichnam standen sogar die Straßenbahnen still, als ihre Prozession über die Gleise führte. So zogen wir auf gestreuten Rosenblättern entgegen der heiligen Strömung in unser Nachtquartier: mit wundgelaufenen Füßen und übervollem Herz. Und mit Weihrauch in der Nase.  (he) 

 

Noch ein paar Tipps am Wegesrand:

Es gibt den Kulturzug: der fährt samstags und sonntags ohne Umsteigen.

Wir wollten drei Tage bleiben, also reisten wir donnerstags um 9:37 von Berlin Hbf, stiegen in Poznan um und waren um 14.40 in Wroclaw. (Am besten schon im Zug nachfragen, auf welchem Bahnsteig/Peron die Reise weiter geht, denn die Zeit zum Umsteigen ist hinzu knapp).

Sonntags ging es um 13:21 Uhr zurück, wieder über Poznan, mit Ankunft um 19:43 in Berlin. Das kostete 70 Euro hin und zurück (Sparpreis Europa Polen) und erwies sich als sehr komfortables Reisen.

Übernachtet haben wir im Radisson Blu Hotel (840 Zloty für drei Nächte und für zwei Personen im Doppelzimmer). Ohne Frühstück, das überteuert ist. Auch das Art Hotel im Zentrum soll gut sein.

Der Kurs ist etwa 1:4 und bezahlt wird überall mit Zloty. Tauschen kann man an fast jeder Ecke in den Kontors oder man hebt Zlotys an Automaten ab.

Hier gibt es Näheres zur Stadtbesichtigung: freewalkingtour.com/wroclaw/auf-deutsch/breslauer-altstadt/

Auch unbedingt reinschauen: www.breslau.berlin

Und das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam brachte in dem sehr lesenwerten Journal „Blickwechsel“ in der Ausgabe 4/2016 spannende Reportagen über Breslau/Wroclaw heraus: erhältlich für eine Schutzgebühr  von 2,50 Euro unter svk@svk.de oder Tel. 0711/6672 1483 (Bestellnr. DF111). Ein kostenloser Download ist unter www.kulturforum.info möglich.

Wer sich besonders ausführlich über Breslau informieren möchte, dem sei das Buch „Die fremde Stadt Breslau“ empfohlen: www.amazon.de/Die-fremde-Stadt-Breslau-1945/dp/3886807959

 

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