Damit die Nacht vergeht oder die Kälte. Helga Schütz nimmt uns mit auf „Heimliche Reisen“

So nahe kam sie dem Leser wohl noch nie: Die Potsdamerin Helga Schütz öffnet sich in ihrer großen Lebenserzählung „Heimliche Reisen“, die sie am Dienstag im T-Werk vorstellt, mit freimütiger Klarheit. Sie lässt uns nachfühlen, wie sie in Kollision mit der Politik immer wieder aneckte, aber auch in ihren Beziehungen zu komplizierten, unpraktischen Männern zu kämpfen hatte. Diese starke, tief geerdete Frau, einst Gärtnerin, dann Drehbuchautorin und Schriftstellerin, weiß nicht nur jedes Kraut zu benennen und zu schätzen, sie dringt auch vor in gesellschaftliche und menschliche Verwerfungen, erwärmt sich am Miteinander, am Zuspruch über soziale Klippen hinweg.

Wir treten ein in ihr Haus in Sacrow, das sie einst mit dem inzwischen verstorbenen DEFA-Regisseur Egon Günther teilte. Ohne seinen Namen zu nennen, weiß jeder Bescheid um ihre große Liebe, und wer sie da im Stich gelassen, sich in den Westen abgesetzt und bald eine viel jüngere Frau im Arm gehalten hatte. Die feinsinnige Potsdamer Autorin ist indes weit davon entfernt, einen Rosenkrieg nachzuzeichnen oder in Larmoyanz zu verfallen.

Sie spürt verwundert dem Echo der eigenen Erinnerungen nach: Wie sie eines Tages vor diesem viel zu großen Haus steht, „in einem Gebiet, wo nur Grenzsoldaten spazierengingen, wo man jeden Tag vor Augen hatte, dass die Welt kaputt war, mit Stacheldraht notdürftig zusammengeflickt …“  Eine Heizung fehlt. Und während der Liebste, der große Frauenfilmer,  irgendwo dreht, geht sie mit Babybauch auf Suche nach Rohren, nach einer kleinen Zentralheizung, nach Wärme für ihr künftiges Heim. Und wird tatsächlich im VEB Großanlagenbau Babelsberg Nord fündig. Ohne Tauschobjekt trifft sie beim dortigen Chef auf offene Ohren. Oder lässt er sich von ihrem langen blonden Zopf einwickeln? Egal, wir erfahren viel über die Zeit der DDR, über Engpässe und weibliche Courage, gerade wenn es um den Nestbau geht; aber auch über Hilfsbereitschaft hier und dort: ob bei der benachbarten Filmfreundfamilie oder dem Sacrower Bürgermeister.

Die akribische Beobachterin und tieflotende Erzählerin mäandert in „Heimliche Reisen“ in breiten Schwüngen vor und zurück: Mal hinein in die schlesische Kindheit, die Flucht nach Dresden, an den Schneidetisch der DEFA, auf wagemutige Reisen nach dem Mauerfall, hinein in eine neue Liebe, in eine neue Enttäuschung, und in ihr beglückendes Großmuttersein mit dem Enkel in der Hängematte unter den märkischen Kiefern in Babelsberg. Wellenmäßig rollen wir vor und zurück – manchmal rasant, manchmal im trägen Lauf. Oft fröhlich, dann wieder tieftraurig. Wir stehen gedanklich mit der Autorin am Kindergrab auf dem Dorffriedhof, wo es sie immer wieder hinzieht. Über die Jahrzehnte.

Ihre Tochter Claudia wurde kurz nach dem Einzug in Sacrow geboren. Ein Hospitant im Städtischen Krankenhaus durfte unter den Augen der Ausbildungsschwester den Nabel des Säuglings versorgen. Doch in seiner Aufregung hatte er vergessen, sich die Hände zu waschen. „Ein Infekt schlich sich über den Nabel in die Blutbahn.“ Helga Schütz schreibt von ihrem jahrelangen Hoffen und Bangen, von ihren Nachtwachen am Bett der kranken Tochter. Und dann kam eine Einladung von der Frankfurter Buchmesse, auf der sie lesen sollte. Sie fuhr trotz Gewissensbissen. Der Tochter ging es gerade besser, gut überwacht von Ärzten in der Kinderklinik in der Aue. Der Tod schlich sich in die kurze Zeit ihrer Abwesenheit. Claudia starb mit 12 Jahren. Das mühsam errichtete Nest war auf einmal keines mehr.

Wir halten beim Lesen inne. Und werden wieder fortgerissen mit neuen Geschichten, die uns manchmal stutzen lassen, wo wir uns gerade zu welcher Zeit befinden. Sie entführen uns in Limonenhaine und an die Amalfiküste, wo nachts im warmen Sand der Haustürschlüssel verloren geht. Oder zum Bahnhof Zoo, wo sich ein ausgebüchster Junge aus dem Kinderheim an fremden Taschen zu schaffen macht und von der Polizei erwischt wird. Ein Kind, das die Erzählerin kurz zuvor in der S-Bahn kennenlernte. „Ich hätte dich an der Hand nehmen, ich hätte mit dir zurückfahren müssen bis zum Bahnhof Griebnitzsee in das Heim mit den lila Fliederwolken, den pünktlich schlagenden Nachtigallen.“ Immer wieder landet die Autorin bei sich, geht in eine kritische Selbstbefragung.

Ihr Enkelsohn Jakob sagt an einer Stelle: Manche Geschichten sind zum Wachbleiben und manche zum Einschlafen, die gibt es, damit die Nacht vergeht oder die Kälte.“

„Heimliche Reisen“ trägt uns fort, manchmal mit Wiederholungen, aber immer wieder mit neuem Stoff zum Denken, Spüren, sich Einlassen in die feingesponnene Poesie mit viel Lokolkolorit unter dem großen Dach der Welt.

Und ganz oft landet man beim lesenden Erinnern im Jetzt: im Krieg ganz nah. „Ich acht Jahre, versteckt hinter Großmutters Rücken. Flüchtlingstreck. Lauter graue Gesichter mit großen Augen. Die Arme schlenkern. Alle Fäden gerissen …“ he

 

Die Lesung findet als Veranstaltung des Frauenzentrums im T-Werk, Schiffbauergasse Potsdam, am Dienstag, 8. März, um 19 Uhr statt. Eintritt kostet 5 Euro

 

„Heimliche Reisen“ von Helga Schütz ist im Aufbau Verlag Berlin erschienen. Es kostet 24 Euro

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